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Marcel Schütz lehrt und forscht an der NBS, u. a. zu Störungen und Regelabweichungen in Organisationen. Bild: Kevin Knoche

Die Corona-Krise hat das Land und nahezu die ganze Welt erfasst. Entwicklungen der nächsten Tage und Wochen sind noch nicht absehbar. Entscheidende Bedeutung wird jedoch die Wirkung der getroffenen Unterbrechungen im sozialen Leben haben. Genügen die Beschlüsse, um das Virus einzudämmen? Wie lange wird es dauern, bis ein Impfstoff entwickelt ist? Und kann die Gesellschaft mit längeren "Auszeiten" überhaupt geordnet umgehen? Derlei Fragen beschäftigen derzeit viele.

In einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) wirft Research Fellow Marcel Schütz, Soziologe und Organisationswissenschaftler an der Northern Business School in Hamburg, einen ersten Blick auf das Geschehen. Er hebt hervor, dass physische bzw. umweltliche Bedrohungen wie Seuchen, Kalamitäten oder Naturkatastrophen durch soziale Strukturen nicht reibungslos aufgefangen werden können. Ihre Unerwartbarkeit macht Krisen dieser Art für die Gesellschaft problematisch. Der Text ist online auf den Seiten der NZZ oder als PDF abrufbar. Darüber hinaus hat die NBS mit Marcel Schütz über das Thema Corona und Gesellschaft ausführlicher gesprochen:

Herr Schütz, Regelabweichungen, Unfälle und Störungen sind einer Ihrer Themenbereiche: Wie gut verträgt es denn eine ganze Gesellschaft, praktisch "isoliert" zu werden?

Die Gesellschaft wird ja nicht in Gänze isoliert. Elementare öffentliche Dienste wie Helfen, Schützen, Versorgen werden weiter geleistet. Einiger Komfort wird spürbar reduziert. Wörter wie "Ausgangssperre" insinuieren im ersten Moment, dass es zur völligen Abschottung von allem kommen könnte. Aber die Leute werden sich selbst im Extremfall weiter mit Nahrungsmitteln einzudecken haben. Im "Land der Supermärkte" ist die Versorgung weiterhin gewährleistet. Problematisch würden Unterbrechungen dann, wenn logistische Prozesse gar nicht mehr geordnet liefen und längerfristige Störungen in der Lieferung an Nachschub einträten. Hier ist gegenwärtig nicht alles absehbar. Unterbrechung heißt auch: Überbrückung. Die Anschlüsse sicherstellen, so gut es geht. Das Ausmaß wirtschaftlicher Verwerfungen dürfte allerdings weitreichend sein.

Wie lange kann man denn eine solche Lage aufrechterhalten?

Die Frage stellt sich; aber eigentlich auch wieder nicht. Denn erstens kann es niemand gegenwärtig seriös vorhersagen. Und zweitens müssen wir so lange damit leben, wie es als erforderlich gilt. Es gibt aus soziologischer Sicht noch weitere Überlegungen: Wenn Schulen, Hochschulen, Betriebe, öffentliche Dienste über längere Zeit geschlossen oder erheblich eingeschränkt blieben, könnte dies Effekte haben für damit verbundene soziale Bereiche. Alle diese Organisationen entlasten von Aufgaben, die nicht alle gleichzeitig und nicht alle gleich gut erledigen können. Bevor man von Zusammenbrüchen oder kapitalen Veränderungen ausgeht, wird man erstmal damit rechnen dürfen, dass eher vorübergehend etwas "umorganisiert" wird. Sie sehen das jetzt bei dem Thema Home Office/Telearbeit oder E-Learning. Das ist, in diesem Maße, für manche Mitarbeiter, Schülerinnen und Studierende, eine neue Erfahrung. Auf einmal werden viele Kraftanstrengungen unternommen, Leistungsausfälle zu meiden oder zu mindern. Man lässt sich was einfallen. Improvisieren, Puffer einrichten, Termine streichen und Aufgaben priorisieren. Das im Griff zu behalten, ist eine gesellschaftliche Stärke.

Offenbar scheint diese Stärke aber davon abzuhängen, wie sehr sich ansonsten sehr verschiedene soziale Bereiche daran kooperativ beteiligen?

Das ist wahrscheinlich der springende Punkt. Fokus und Disziplin. Juristisch kann man einiges erzwingen. Aber individuelle Einsicht ist unersetzbar. Der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube hat es in einem Kommentar angesprochen: Die Seuche stelle die Gesellschaft und ihre Länder vor eine unbekannte Aufgabe. Nämlich: "So gut wie ihre gesamte Leistungsfähigkeit auf ein einziges Problem zu konzentrieren oder jedenfalls so gut wie alles diesem einen Problem unterzuordnen." Man weiß natürlich schon jetzt, dass erstmal gesetzte Warte- bzw. Karenzzeiten, befristet mit einem bestimmten Datum (vielerorts sind es momentan die Tage um den 20. April), unter vielen Vorbehalten stehen. Ich würde sagen, die momentane Zeit könnte sich als eine der Gewöhnung erweisen. Gewöhnung daran, ein schwieriges Problem durch außergewöhnliche Zentralisierung von Entscheidungen zu bearbeiten. Gewöhnung aber auch daran, dass es ganz so schnell keine Rückkehr zur „gewohnten Normalität“ geben könnte. Wenn man damit zu leben lernt, ist das wiederum auch eine Form der sozialen Normalisierung. Das ist jetzt auch die Aufgabe der Akut- bzw. Notorganisationen. Sie müssen auf Unerwartetes angemessen flexibel reagieren.

Es wurde Kritik am föderalistischen Verfahren in der Bundesrepublik laut. Wäre es nicht angezeigt, im Notfall Kräfte stärker zu bündeln?

Diese Diskussion gibt es in Deutschland auch außerhalb von Krisenzeiten. Denken Sie an den Klassiker: die Schulpolitik. Aus Politik- und Managementforschung wissen wir immerhin, dass die Entscheidung für Zentraliät oder Dezentralität keine so glasklare Sache ist. Es gibt hier wellenförmige Entwicklungen, weil man, je nach Bedarf, ständig Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen kann. Persönlich neige ich zu der Auffassung unseres ehemaligen Ersten Bürgermeisters und amtierenden Bundesfinanzministers, Herrn Scholz, der darauf hingewiesen hat, dass der Föderalismus Möglichkeiten schaffe, dass sich sehr viel mehr Instanzen, nicht nur die einer Hauptstadt, mit akuten Problemen vor Ort befassen können. Gleichwohl, das ist kein Dogma. Das Grundgesetz erlaubt seit 1968 bei Notstand einen Durchgriff durch die Bundesregierung in die Länder. Der wurde noch nie ausgerufen und daher bevorzugt man das, was man kennt: die klassische Bund-Länder-Verständigung. Es ist gut, wenn man dann eilig zum Punkt kommt. Wir erinnern uns an die letzte Woche: Nach Diskussionen folgte ein Beschluss nach dem anderen.

Eine praktische Sache: Einkaufen müssen wir ja, wie gesagt, weiterhin. Wie könnten nötige Besorgungen möglichst sicher bewältigt werden?

Die einschlägigen Anleitungen sind ja sattsam bekannt. Abstand zu halten, ist einer der wichtigsten Faktoren, Selbst- und Fremdinfektionen deutlich unwahrscheinlicher zu machen. Mir fällt auf, dass immer noch eine Reihe Leute offenbar Schwierigkeiten oder fehlende Motivation aufweisen, sich daran zu halten. Man muss sich nicht gleich an den Vordermann drängeln oder in die Käsetheke mit mehreren Händen zugleich zugreifen. Immer ein bisschen die Augen im Kopf zu behalten, ist hilfreich. Übrigens suchen viele derzeit ja aussichtslos Desinfektionsmittel im Regal. Mir ist aufgefallen, dass die frei verfügbaren Spender beim Ein- und Ausgang oft gar nicht genutzt werden. Es ist eben nicht alles rational zu fassen. Die Lage wirkt paradox: Wir sollen mehr kooperieren, müssen dazu einander aber auf Distanz bleiben. Wahrscheinlich braucht es noch eine Weile, bis man fassen wird, was diese Umstände für unsere Art des Lebens tatsächlich bedeuten.

Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School in Hamburg. Er lehrt hier Unternehmensführung, Personal- und Projektmanagement sowie Soziologie an der Universität Bielefeld. Dabei befasst sich u. a. mit organisatorischen Aspekten von Regelabweichungen, Unfällen und Störungen.