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Die weiße Pracht bleibt alle Jahre wieder aus. Warum sie trotzdem so sehr unser Idealbild vom Fest prägte, verrät Prof. Dr. Marcel Schütz im ausführlichen Weihnachtsinterview, in dem er sich als wahrer Schneeliebhaber outet. Bild: NBS/Privat.

Vergessen, Vergeben, Versöhnen: Viele Menschen wünschen sich zum Jahresende gute Beziehungen und wollen persönliche Konflikte aus der Welt schaffen. Aber das ist nicht leicht. Marcel Schütz erforscht die soziale Seite des Weihnachtsfests. Ein Gespräch über Lust und Frust des Miteinanders an den Festtagen.

NBS: Herr Schütz, nächste Woche ist schon wieder Weihnachten. Sie sind gewissermaßen amtlicher "Weihnachtssoziologe" und seit ein paar Jahren stets vor den Festtagen gefragter Gesprächsgast im Radio. Wenn man so will: ein Weihnachtswissenschaftler?

Zumindest für die Dauer der Weihnachtszeit. Mich interessieren die sozialen Facetten bezüglich Weihnachten – als Gesellschaftsfest. Was es uns bedeutet, wie wir damit umgehen, mit welchen Interaktionen es zelebriert wird. Das betrifft Historisches, Regionales oder Kulturelles. Und dann ist da die Ambivalenz der Weihnacht, das Spannungsvolle und Anstrengende bei all dem Warten und Vorbereiten. Das kann bekanntlich belasten.

Dazu gleich mehr. Wir sollten unseren Leserinnen und Lesern noch verraten, dass Sie im übrigen Jahr vielen weiteren Themen und Projekten nachgehen.

Anderenfalls wäre ich als reine Saisonkraft etwas unausgelastet. Das ist zum Glück nicht der Fall. Wir forschen hier ja "nicht nur zur Weihnachtszeit" (um eben schnell noch dezent auf meinen Literaturtipp auf unserer "NBS-Empfehlungsliste" für die Festtage hinzuweisen).

Worin zeigt sich die angesprochene Ambivalenz beim Weihnachtswarten bzw. -erwarten?

Weihnachten ist heute viel Klischee, Kitsch und Kommerz. Zugleich sind Plätzchenbacken und gutes Essen, Weihnachtsmärkte und Adventsfeiern, das Musizieren und Singen, das Basteln, Schmücken und Schenken geschätzte soziale Anlässe bzw. Orte, die mit Gemütlichkeit und Geselligkeit verbunden werden. Typen und Geschmäcker sind verschieden. Aber es gibt eine kollektive Grundstimmung. Einerseits als Empfänglichkeit, andererseits als Reizbarkeit. Die einen sind eingefleischte Weihnachtsfans, die anderen lassen sich mitziehen und wieder andere wollen einfach in Ruhe gelassen werden.

Dadurch ist die Weihnachtzeit so massentauglich und das größte festliche Event im Jahr? 

Ja, das "Größte" hinsichtlich der Beeinflussung des gesellschaftlichen Lebens. Alles muss sich Weihnachten beugen. Die Wirtschaft, die Politik, die Medien, zuweilen sogar die Gesundheit. Der Erfolg dieses Festes, seine Popularität, liegt auch in der Entkopplung von der religiösen Dimension um die Geburt Jesu Christi. Weihnachten ist heute ziemlich säkularisiert. Die religiösen Prägungen bestehen aber fort. Und immerhin zu Weihnachten spielt die Kirche für viele noch eine Rolle. Die festlichen Formen hatten sich im 19. Jahrhundert weiter verselbstständigt, als die Weihnacht verstärkt als bürgerliches Familien- und Kinderfest akzentuiert wurde. Im Laufe der Zeit mit allem, was dazu gehört: leuchtendem Tannenbaum, je nach Geldbeutel mehr Geschenken und bestenfalls: Weißer Weihnacht.

Apropos Schnee zur Bescherung. Klären wir das gleich mal. Es ist meistens der unerfüllbare Traum der Kinder – aber auch der Erwachsenen. Gab es früher wirklich mehr Weiße Weihnachten? Warum sind wir so heiß aufs kalte Weiß? 

Schnee symbolisiert Reinheit und Ruhe, Frieden und Harmonie. Schnee macht den recht dunklen Dezember heller. Das passt gut zum Anlass, welcher ja so sehr das Licht betont. Fast scheint es, als sei der Schnee selbst eine Art Weihnachtsschmuck. Eine schneebedeckte Landschaft empfinden wir als ästhetisch und stimmungsvoll. Die Zeit ist wie gestoppt. Denken wir an bekannte Liedverse: "Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See." Und weil wir so selten eine Weiße Weihnacht haben, ist es jährlich aufs Neue spannend, ob es nicht doch mal wieder klappt. Jedoch ist Schnee zum Fest mehrerer klimatischer Bedingungen wegen – Weihnachtstauwetter, Windströmung, Erderwärmung – für die meisten Regionen in Mitteleuropa abseits der Gebirge eher unwahrscheinlich. Im letzten Jahrhundert wurde Schnee an Weihnachten bis ins Flachland zumindest einige Male beobachtet. Und in der "Kleinen Eiszeit", vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, war die Weiße Pracht zur Weihnacht teilweise eher die Regel als Ausnahme. Aber da hatten viele Menschen andere Sorgen, mussten sich vor eisiger Kälte schützen und litten mitunter Hunger und Not.

Jetzt bemerkt man "Herrn Schütz Gespür für Schnee" …

(Lacht) Ja, für mich könnte es von Mitte November bis Anfang März schneien und frieren. Ich bin ein großer Freund des Schnees und Winters. Das traut man sich in Zeiten unsicherer und teurerer Energieversorgung kaum zu sagen, wir sind hier ja an einer Business School (zum Glück bleibt das unter uns, nicht wahr?). Richtig kulturprägend wurde das weihnachtliche Weiß übrigens durch Impressionen aus dem schneereicheren Neuengland, dank Postkarten, Fotografie und Film. Auch die Internationalisierung des Reisens, eben in Schnee- und später Wintersportgebiete, hatte ihren Einfluss. Zudem konnte man die Häuser immer besser isolieren und es gab ordentlichere Fenster, die aus der guten Stube den Blick hinaus in die Winterlandschaft gewährten. Das ließ es zu, dem Schnee mehr und mehr Reiz abgewinnen zu können. Ironie der Geschichte: Klagte man einst über Kälte und Schnee, klagte man schon um 1900 über zu wenig Schnee. Dass bis in unsere Zeit allerlei Weihnachtswerbung und -verzierung nicht ohne überschwängliche Schneeillustrationen auskommt, verdeutlicht, wie die Sehnsucht nach dem eisig-pulvrigen Weiß bei Kindern und Erwachsenen ausgeprägt ist.  

Und, gibt es dieses Jahr noch Chancen auf Weiße Weihnachten?

Für die allermeisten natürlich nicht. Direkt im Alpenraum und für einige Hochlagen der Mittelgebirge schaut es besser aus.

Kommen wir zu heikleren Dingen: Wie entsteht der soziale Druck zu Weihnachten?

Weihnachten kommt jedes Jahr wieder. Doch eigentümlicherweise soll jedes Weihnachten am liebsten perfekt werden. Als wäre es das letzte. Was für viele Menschen ja stimmt. Wir erinnern das erste Weihnachten ohne die im Jahr verstorbenen Verwandten. Man wünscht sich an Weihnachten öfter mal, alles könnte bleiben, wie es ist: das Zusammensein, die besondere Stimmung, Tage möglichst ohne Stress und Sorgen. Aber man weiß, dass das ein Stück weit etwas ist, zu dem man sich diszipliniert, vielleicht sogar zwingt. Und dieses Wissen gefährdet den Zauber unterschwellig. Die harmonische Situation ist fragil. Dazu kommt, dass Krankheit, Schicksalsschläge oder Depression aufs Gemüt schlagen können. Da braucht es nicht viel und Weihnachten ist eher ein Krampf, als eine Freude.

Was kann passieren, dass es auf einmal knallt, bricht und umschlägt?

Es gibt den Punkt der Überreizung. Man darf zum Beispiel die Geduld nicht überstrapazieren, einander nicht alles zumuten; etwa einen bestimmten Ablauf über Weihnachten aufdrängen, um einem Schema folgen zu müssen. Das passiert leicht, weil man meint, sich im Familiären schon nicht groß wehren zu können, in diesem zuweilen angespannten Mikrokosmos. Bei uns zu Hause pflegt man zum Beispiel zu sagen: Und was steht heute auf dem "Programm"? Da klingt eine gewisse Vorsicht heraus. An Weihnachten muss irgendwas getan werden. Besuche abstatten, Filme schauen, Spiele spielen, Spazierengehen, Gespräche führen. Darüber kann man sich abstimmen und individuelle Pläne muss man halt akzeptieren.

Es stellt sich die Frage, wie eng und fest alles abläuft?

Ganz genau. An Weihnachten sind die Familien vor allem in traditionellen Verhältnissen etwas größer als sonst, was die Zusammenkunft der Leute angeht. Mancherorts sieht man sich das Jahr über kaum oder gar nicht. Auch in kleineren Familienformaten gilt: Es treffen verschiedene Naturelle aufeinander, verschiedene Generationen und verschiedene Anhänge an Partnern, die mit den Jahren wechseln können. Dann ist es keine schlechte Sache, wenn nicht alle ständig dasselbe tun, wenn sich eben Gruppen bilden, verschiedene Gespräche zustande kommen, die einen mal vor die Tür gehen, die anderen nicht. Mein Tipp: Es müssen nicht alle die ganze Zeit aufeinander hocken. Lieber nicht.

Ein zentrales Thema Ihrer Weihnachtssoziologie ist die Erwartungsbildung. Der angesprochene Erwartungsdruck einerseits, dann die Wartezeit des Advents. Oder die Erwartungen zwischen den Beteiligten. 

Ja, der Punkt der Erwartungen ist mehrperspektivisch. Hohe Erwartungen an ein schönes Weihnachten sind an sich eine tolle Sache. Aber man kann zu viel erwarten und dann enttäuscht sein, wenn die anderen nicht die Rollen spielen, die man gern von ihnen sähe oder die eigenen Vorstellungen, wie alles vonstatten gehen soll, nicht passen. Es gibt auch die Sorge, einander zu enttäuschen oder zu verletzen. Mir haben Leute aus ihren Familien berichtet, wie sehr sie bemüht sind, für ihre Familienmitglieder ein gutes "weihnachtsadäquates" Verhalten zu zeigen, es ihnen schön zu machen, ja nichts zu versauen. Sei es für die Kinder, für die Eltern, für den Ehemann. Da stellt sich die Frage, ob nicht gewisse Grenzen gezogen werden müssten.

Wollen die Leute sich was vormachen oder verleugnen sie einen Teil von sich?

Ich meine, es gibt den Wunsch, es sich zu beweisen: dass man gut miteinander auskommt und einander mag oder liebt. Je nach familiärerer Bindungsform. Ich erinnere den Fall eines Mannes, der seiner Freundin an Weihnachten alles schenkte und ihr innig begegnete, sich im Frühjahr gleichwohl ihr jedoch trennte. Er hatte es selbst glauben wollen, er hat diese Beziehung erhalten wollen, aber es war nicht mehr, was es einmal war. Und an Weihnachten kann man sowas besonders "beweiskräftig" tun, also zeigen, dass man doch alles versucht. Ich glaube, die Menschen wünschen sich, dass die Weihnacht sie selbst ein wenig verzaubere, ihr Leben auf der richtigen Bahn hält. Es kommt nicht von ungefähr, dass so viele Bücher, Filme und Lieder voller "Weihnachtswunder" stecken. Kann nicht alles ins Reine kommen? Manchmal kann es das, manchmal nicht. 

Das Happy End einer schwierigen, traurigen Geschichte, das ist der Klassiker der Weihnachtsfilme. Und die Weihnachtswerbung zeigt fast nur glückliche Familien.

Die heile Weihnachtswelt in der weltbesten Familie mit allseits strahlenden Gesichtern, das ist eine Konstruktion, die als Ideal eine lange Tradition aufweist. Mit Anleihen aus der aristokratischen und bürgerlichen Präsentation von Familiarität. Man hat förmlich Porträts vor Augen. In schönen großen Häusern oder auf prächtigen Landsitzen. Aber man ahnt da immer schon, dass nicht alles eitel Sonnenschein sein wird. Weihnachten ist sicher etwas, wo man sich gern in guter Gesellschaft zeigt. Wir halten gern das Smartphone auf den schicken Weihnachtsbaum, fotografieren das Geschenk oder die festlich gedeckte Kaffeetafel, um es mit anderen teilen. Man bringt zum Ausdruck, wie ein so intimer Anlass Universelles berührt. Jeder feiert anders, aber im Grunde die meisten doch irgendwie ziemlich ähnlich.

Wie schaut es nun mit Vergessen, Verzeihen und Versöhnen zur Weihnacht aus? Eigentlich der beste Zeitpunkt, könnte man meinen.

Könnte man. Ich habe häufiger bei Freunden und Bekannten gesehen, dass familiäre Zerwürfnisse als unüberwindlich betrachtet wurden. Das ist bedauerlich. Erstens sind unser aller Leben begrenzt. Hinterher machen sich die Leute Vorwürfe, ob man nicht nochmal hätte reden können. Dann ist es zu spät. Zweitens bedeutet ein gewisser Kontakt ja nicht, dass man sich um den Hals fällt. Sondern, dass ein Minimum an Respekt gewahrt bleibt. Es gibt hoffnungslose Fälle. Aber ich denke, oft lohnt es noch einmal das Gespräch zu suchen, einen Anlauf zu machen, von eigenen Standpunkten abzulassen, Nachsicht zu zeigen. Vielleicht kann jemand vermitteln, oder es lässt sich zugestehen, nicht alles richtig gemacht zu haben. Das ist ungemein schwer, gab es zuvor Jahre des Schweigens, der Nichtbeachtung und des Grolls. Doch tausende Menschen quält es jedes Jahr, wenn alles verhärtet bleibt.

Man muss an Weihnachten wohl mal Fünfe gerade sein lassen, über Dinge hinwegsehen? 

Weihnachten feiern geht nicht ohne Nachsichtigkeit. Es gibt immer Dinge, die einen stören: Das Essen, das Schenken oder die Besuchstour, wenn das Gefühl aufkommt, einfach funktionieren zu müssen. Oder denken wir an Äußerungen über Gott und die Welt, die einem nicht schmecken. Schwierig wird’s, wenn man entweder alles in sich hineinsteckt oder sofort aus der Haut fährt. Es lässt sich meist doch direkt sagen, wo man anderer Meinung ist, wieso man dies oder jenes nicht so toll findet. Der Ton macht die Musik. Unter erwachsenen Leuten wissen wir schließlich um die Herausforderung dieser emotionsgeladenen Tage. Es bedarf bei der Weihnachtsinteraktion einer wechselseitigen Schonung. Einander nicht bloßstellen, beleidigen, in die Enge treiben.

Vielen Menschen geht es so, dass sie Weihnachten mit ihrer Kindheit verbinden, mit den Erinnerungen, wie es damals war; bestimmten Abenden und Begegnungen. Erklärt gerade diese frühe Prägung einer Weihnachtsfaszination die so stabile Bedeutung dieses Festes?

Erinnerungen spielen zweifelsohne eine große Rolle. Die Weihnachten der Kindheit sind in den Erzählungen der Erwachsenen die zauberhaftesten. Die Großeltern lebten noch, die Geschwister waren selbst Kinder, die Eltern bedeutend jünger. Hier drängen sich freilich Melancholie und Nostalgie auf: Wer nicht mehr da ist, was seither alles geschehen ist. Es gibt die Geschenke, die man ein Leben vor Augen hat. Die Erinnerung spielt auch eine Rolle beim Blick in die Zukunft. Man definiert das Potenzial der Weihnacht überhaupt aus der Vergangenheit heraus. Wie schön sie sein kann, wenn alles stimmt. Und wie man versucht, sich in dieser Tradition, so gut es eben geht, weiterhin zu bewegen.

Wir haben einige "Beziehungskisten" um Weihnachten aufgemacht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass man mit und an Weihnachten nie alle abholen und zufriedenstellen kann.

Das ist ein wichtiger Punkt. Nicht wenige Menschen feiern Weihnachten gar nicht mehr in traditionellen Familien. Weil es nicht geht oder weil sie nicht wollen. Es gibt neuere Beziehungsformen, die von konventionellen Bildern abweichen: interkulturelle Begegnungen, nicht allein heterosexuelle Beziehungen, improvisierte Mixturen aus Familie, Singles und Freunden. Und natürlich feiern Menschen aus anderen Religionen und Erdteilen auch gar kein Weihnachten, profitieren gleichwohl von der freien Zeit. Nebenher sollte man erwähnen, dass an Weihnachten ziemlich viel gearbeitet wird. In Krankenhäusern, bei der Polizei, in der Gastronomie, bei der Kirche, im Verkehrswesen und andernorts. Man sieht: So viel man über Weihnachten weiß und sagt, so viel übersieht man dabei leicht. 

Zum Schluss ganz persönlich: Wie verbringen Sie Weihnachten?

Da gibt es ganz klassisch das Weihnachten mit der Familie. Und dann lese ich gern an den Tagen, mache Spaziergänge und es kommt zu weiteren Besuchen und Gesprächen. Alles nicht sonderlich spektakulär. Aber das ist ja sozusagen die Grundmelodie unseres Interviews. Ich mag auch sehr die Zeit nach den Weihnachtstagen, die Nachweihnacht, wie ich es nenne. Man kommt besonders zu sich und ins Nachdenken. Und ein bisschen ist ja der Witz, dass wir uns dann alle vom Weihnachtsstress erholen dürfen. Alle Jahre wieder.

Prof. Dr. Marcel Schütz hat die Stiftungs- und Forschungsprofessur für Organisation und Management an der NBS Northern Business School inne. Derzeit arbeitet er an einer Soziologie des Weihnachtsfests, die im kommenden Jahr erscheinen soll. Die Forschungsschwerpunkte von Marcel Schütz liegen in der soziologischen Organisations- und Gesellschaftstheorie.


Kontakt: schuetz[at]nbs.de