Der Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle hat Erschütterung und Diskussion ausgelöst: über Ursachen, Verantwortung und Folgen. Abseits heftiger Kontroverse ist der Terror auch ein Thema der Wissenschaft, konkret der Gesellschaftstheorie. Wie kommt es eigentlich, dass der Terror sich in unserer modernen Gesellschaft regelrecht "festgebissen" hat und vielleicht sogar immer noch weiter zunimmt? Darüber schreibt der NBS-Forscher Marcel Schütz in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung. Wir sprachen mit ihm über das Thema.
Herr Schütz, warum ist es aus Ihrer Sicht problematisch, bei der Analyse des Terrorismus auf Köpfe, also das "Innenleben" der Terroristen zu fokussieren?
Grundsätzlich kann man bei Terroristen alle möglichen Strategien und Methoden vermuten. Terror wird geplant und durchdacht. Nur gibt es da ein Problem: Man kann den Leuten nicht direkt in die Köpfe schauen. Das Bewusstsein der Terroristen entzieht sich den Beobachtern, vor allem einer wissenschaftlichen Beobachtung. Das heißt nicht, dass die Psyche von Terroristen zweitrangig wäre. Doch hat eine soziologische Analyse andere Dinge im Blick: nämlich das Dasein und "Sosein" von Terror unter den Bedingungen dieser Gesellschaft. Der Terror steht nicht im sozialen "Abseits" oder "Außen". Es ist gerade der fatale Witz, wenn man so sagen darf, dass er wie aus dem Nichts zuschlägt und doch mitten unter uns gedeiht.
Sie sprechen im NZZ-Beitrag von der "funktional differenzierten Gesellschaft". Dieser Begriff erscheint auf den ersten Blick sperrig. Was steckt dahinter?
Funktional differenziert nennt man in der Soziologie, genauer in der Systemtheorie, die Gesellschaft deshalb, da in ihr verschiedene Funktionssysteme das, was wir Gesellschaft nennen, auf unterschiedliche Weise vollziehen. Es gibt in der heutigen Gesellschaft nicht mehr gemeinsame Einheiten oder Instanzen, auf die man sich beziehen könnte; keinen Ort, der für die ganze Gesellschaft stehen könnte. Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Kunst oder Erziehung sind jeweils autonom operierende Systeme, die hochabstrakt funktionieren. Ihre Anliegen sind uns indes durchaus alltäglich bekannt: In der Wirtschaft geht es um Zahlungen, in der Wissenschaft um Wahrheit, in der Politik um Macht – etwas vereinfacht ausgedrückt. Funktionssysteme haben die Fähigkeit, das Tun anderer Systeme unbeachtet lassen zu können; sie sind für sie Umwelt. Ergebnis ist die starke Spezialisierung unserer Gesellschaft, die bisweilen Konflikte provoziert: Gesellschaftskritik, Proteste und auch Terror. Hier setzt die Arbeit des Soziologen Peter Fuchs an, auf den ich mich beziehe.
Sie schreiben, in Anlehnung an den vorhin genannten Autor, Terroristen terrorisierten die Gesellschaft, als könne diese von einem zentralen Ort bestimmt werden. Ist das nicht paradox? Immerhin gibt es sehr viele Terrorgruppen; diese sind doch sehr verschieden darin, was sie an der Welt stört und wie sie darauf reagieren.
Ja, man könnte meinen, der Terror operiert eigentlich so, als sei diese Differenzierung der Gesellschaft entweder nicht existent oder zu umgehen oder aufzuheben. Terroristen bringen zum Ausdruck, dass genau ihr Anliegen von buchstäblich explosiv dringlicher Bedeutung sei. Aber natürlich kann diese Gesellschaft mit den Mitteln ihrer Ordnung solch gezielter Störung kaum etwas entgegensetzen. Der Terror sieht nicht oder es interessiert ihn nicht, dass er sich mal gegen das eine, mal gegen das andere und irgendwo auf der Welt wieder gegen dies und jenes richtet. Daher können Staaten, die ja das Gewaltmonopol durch die Politik kennen, auch nicht, sozusagen seriös, auf Terror eingehen. Für Terror gibt es nur ihn selbst und den Rest. Ganz oder gar nicht, Tod oder Leben, das selbstverständliche Gehen über Leichen. Terror ist total.
Mit einem Angriff wird der Kontakt zur "normalen" Gesellschaft ja buchstäblich "auf den Schlag" beendet. In der Theorie, die Sie vorstellen, heißt es nun, es würde aber sofort wieder daran angeschlossen. Wie funktioniert das konkret?
Es bleibt nicht aus, dass Menschen trauern und ihre Bestürzung zum Ausdruck bringen. Terroristen dürften davon ausgehen, dass sich der von ihnen verbreitete Schrecken nach einem Anschlag gewissermaßen fortsetzt. Nachdem das Leben genommen ist, folgt die Zeit der Spekulationen, der Abwehrpläne, der Analysen, der Sorge um nächste Anschläge und der Rhetorik im bekannten "Kampf gegen den Terror". Ein Politiker muss diesen Kampf thematisieren. Und ein Wissenschaftler, wie ich nun gerade, beteiligt sich auch an der etwas unfreiwilligen "Fortsetzung". Wir alle halten die Kommunikation über Terror in Gang. Und damit ist klar: Einerseits bricht der Terror mit der Ordnung der Gesellschaft, andererseits bringt er sie dazu, sich innerhalb ihrer Ordnung sofort wieder zum Terror verhalten zu müssen. Eine Gesellschaft, in der man sich an Bombenattentate in der U-Bahn gewöhnen würde, ist vermutlich unvorstellbar. Aber auch eine Gesellschaft, die auf Terror mit Gegenterror reagierte, würde sich eigener Kritik aussetzen. Vielleicht provoziert der Terror genau das: eine Gesellschaft, die die Justiz schärft und damit eigene Freiheit einschränkt. Denken Sie daran, was alles heute geprüft wird, bevor man mit dem Flugzeug abheben darf. Und dort, wo es zu gewissen Gewöhnungen kommt, kann man beobachten, dass der Terror sich überlegt, wie er noch härter, noch raffinierter zuschlagen kann. Ignoriert man etwa zu lange militärische Konflikte irgendwo auf der Welt, ist nicht ausgeschlossen, dass jemand auf die Idee kommt, dafür heute noch in der U-Bahn, hier in Hamburg, Rache zu üben.
Die Sozialen Medien spielen eine große Rolle, wenn es um die Reaktionen auf Terrorakte geht. Sie erwähnen in Ihrem Beitrag die klassischen Massenmedien, die nicht abschalten können. Können sie nicht oder wollen sie nicht?
Vermutlich gilt beides. Neben den modernen Medien haben auch die klassischen ihre Informationsangebote und Ausspielkanäle professionalisiert. Wenn Sie Nachrichtenkanäle ansehen, die rund um die Uhr senden, dann werden diese rund um die Uhr auf den Terror schalten, wenn er denn eintritt. Man könnte fragen: Was sollten Medien sonst tun? Deswegen gebe ich nicht sehr viel aufs hohe Moralisieren gegen die Medien, wenn sie typischerweise improvisieren und lediglich sagen können, dass sie auch noch nichts Genaues wissen. Vom Angewiesenen auf "Informationshäppchen" sprach die Tage der Journalist Frank Lübberding in der FAZ. Das finde ich zutreffend. Medien selektieren und variieren zudem. Dieser Experte soll sprechen, jener nicht. Hier eine Grafik, dort eine Live-Schalte. Es gibt keine Direktübertragung der Realität, sondern eine medial verarbeitete Realität. Klar, dass Terror davon profitieren kann. Mehr Kameras, mehr Reporter, mehr Aufmerksamkeit, mehr Erregung, mehr Unordnung. Die Gesellschaft expandiert die durch den Terror bewirkte Eskalation, könnte man sagen. Er braucht dazu Helfer, die sich nicht dagegen wehren können, an der Sache mitzuwirken. Dazu gehören heute auch die Sozialen Medien. Und wenn beispielsweise empfohlen wird, man solle bitte keine Videos der Terroristen ansehen und teilen, ist das eine sichere Methode, die Leute erst Recht neugierig zu machen.
Sie kommen in Ihrem Beitrag zu der Bewertung, dass man eine derartige wissenschaftliche Beschreibung des Schrecklichen womöglich selbst als schrecklich ansehen könnte. Meinen Sie, dass der Eindruck aufkommen könnte, dass man zu wenig Empathie aufbringt, zu kühl analysiert?
Dieser Verdacht könnte aufkommen. Nur ist es so, dass emotionale Nähe zwar verständlich ist, gleichwohl eher nicht geeignet erscheint, Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeit zu sein. Trauer der Zurückgebliebenen ist wichtig, auch staatstragend zelebrierte Trauer ist für uns soziale Normalität. Für einen Forscher ist es etwas Verschiedenartiges, einerseits "als Mensch" tiefe Betroffenheit über den Tod unschuldiger Menschen zu empfinden und andererseits die tatsächliche Funktionalität dieser Schläge inmitten der sozialen Welt nachzuvollziehen. Und mit Nachvollziehen meine ich einzig und allein: Beschreiben. Wissenschaftler können bestenfalls der Versuchung widerstehen, sofort eine Antwort zu finden, wo unter Umständen gar keine leichte zu finden ist. Terror heißt ja "Schrecken". Und jeder ist wahrlich erschrocken, wenn der Terror vor der Tür ist. Doch irgendwie kennt man ihn auch. Und das wirklich Erschreckende ist dann vielleicht, dass überall auf der Welt der Terror die Menschen plagt, aber die Aufmerksamkeit dafür nicht selten daran hängt, wo man selbst zuhause ist. Wie gesagt, die Medien selektieren und Menschen tun es auch.
Vielen Dank für das Gespräch!
NZZ-Artikel als Druck-PDF (Download)
Weiterführende Informationen zu diesem Thema:
Fuchs, Peter (2015/2004): Das System »Terror«. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne. Bielefeld: transcript. (open access)
Fuchs, Peter (2001): Der Terror der Gesellschaft. In: taz/die tageszeitung, 18.09.2001, S. 17.