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Am vergangenen Donnerstag stellten Hamburgs Innensenator Andy Grote und Polizeipräsident Falk Schnabel die Kriminalstatistik 2023 für die Hansestadt vor. Die Bilanz: Mehr Taten, mehr Täter! Dennoch zeigten sich die Verantwortlichen positiv gestimmt. Wir haben mit Prof. Dr. jur. André Schulz, Kriminalwissenschaftler an der Northern Business School (NBS), zu diesem Thema gesprochen.

NBS: Herr Professor Schulz, während die erfassten Delikte im Vergleich zum Vorjahr um 10,9 Prozent gestiegen sind, werde Hamburg immer sicherer, so die Aussage von Innensenator Grote. Wie passt das zusammen?

Schulz: Grundsätzlich ist die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) recht begrenzt. Mit der PKS wird lediglich das sogenannte Hellfeld erfasst, also jene Straftaten, die entweder bei der Polizei angezeigt wurden oder der Polizei durch eigene Ermittlungen bekannt geworden sind. Darüber hinaus gibt es das sogenannte Dunkelfeld, das sind die Straftaten, die der Polizei nicht bekannt geworden sind. Um dieses Dunkelfeld aufzuhellen, betreiben Kriminologinnen und Kriminologen Dunkelfeldforschung. Man kann das Dunkelfeld bei zahlreichen Delikten aber auch durch aktivere Polizeiarbeit aufhellen, bei den sogenannten Kontrolldelikten, die in Hamburg im letzten Jahr rund 25 Prozent aller registrierter Straftaten ausmachten. Die Zahl der Delikte hängt also stark von der Kontrollaktivität ab. Hier lautet die Gleichung: Mehr Polizei gleich mehr (festgestellte) Kriminalität. Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft auch als „Lüchow-Dannenberg-Syndrom“ bekannt. Man muss die statistische Kriminalitätsentwicklung stets über einen längeren Zeitraum, mindestens über 10 Jahre und länger, betrachten, um seriöse Aussagen machen zu können. Zudem darf man nicht die absoluten Zahlen vergleichen, sondern muss die registrierten Taten pro 100.000 Einwohner, die sogenannte Häufigkeitszahl, betrachten. Die Aussage, dass die Stadt im Langzeitvergleich bei anhaltend hohem Bevölkerungswachstum immer sicherer wird, kann man mit Blick auf die registrierten Fälle deshalb tatsächlich grob vereinfacht so vornehmen, dennoch zeigt die Kriminalstatistik nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Kriminalität, und dass die tatsächlichen Probleme woanders liegen.

NBS: Polizeipräsident Falk Schnabel legte besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Aufklärungsquote in der Hansestadt mit 48,2 Prozent den höchsten Stand seit 1997 hat.

Schulz: Die Aufklärungsquote hat eine noch geringere Aussagekraft als die Kriminalstatistik insgesamt. Beispielsweise beim Ladendiebstahl, wo die Aufklärungsquote Jahr für Jahr immer bei ca. 90 Prozent und darüber liegt. Aus Studien weiß man aber, dass nur ca. 2 bis 5 Prozent aller Ladendiebstähle überhaupt entdeckt werden. Das sieht in anderen Deliktbereichen, zum Beispiel bei Internetkriminalität, ähnlich aus. Die Aufklärungsquote lässt nur bei wenigen Delikten eine tatsächliche Aussage zu, so beispielsweise beim Wohnungseinbruch, ein zugegebenermaßen nur schwer aufzuklärendes Delikt, wo ein Großteil der Taten bekannt wird, und zwar deshalb, weil die meisten Menschen gegen Einbruch versichert sind und eine Anzeige erstatten. Bei der jetzigen Vorstellung der Statistik wurden noch nicht alle Zahlen veröffentlicht, auch nicht die Aufklärungsquote beim Wohnungseinbruch. Im Jahr 2022 betrug sie 8,9 Prozent. Damit wird sich dann vermutlich niemand rühmen.

NBS: Die registrierte Kriminalität war während der Pandemie deutlich zurückgegangen, nun sind die Fallzahlen aber wieder deutlich gestiegen - allerdings nicht in allen Bezirken.

Schulz: Die Kriminalstatistik zeigt, dass mehr als Dreiviertel des Gesamtanstiegs in St. Georg und St. Pauli liegt. Das verwundert nicht, denn beides sind Hotspots in der Stadt. Die Clubs und Bars sind nach der traurigen Coronazeit endlich wieder voll. Überwiegend jüngere Menschen aus Hamburg und dem gesamten Umland sowie eine Vielzahl von Touristen kommen hier zusammen, feiern, konsumieren Alkohol und andere Drogen. Alles Risikoaspekte, sogenannte kriminogene Faktoren, die Kriminalität begünstigen. Ein erheblicher Teil der Taten wurde aber aufgrund massiver Erhöhung der Polizeipräsenz rund um den Hauptbahnhof unter der Überschrift „Allianz sicherer Hauptbahnhof“ erfasst. Täter und Opfer bezeichnet die Polizei als „der Drogen- und Trinkerszene“ zugehörig. Hier muss man kritisch die Frage stellen, ob Polizei und das Strafrecht die richtigen Mittel gegen Suchtkranke sind. Forderungen nach mehr Polizei, mehr Videoüberwachung und Waffenverbotszonen sind jedenfalls nicht zielführend, hier bedarf es einer intelligenten Sozialpolitik. Dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, zeigt sich auch durch die Zunahme der Ladendiebstähle und beim Tankbetrug, die oftmals von Menschen in prekären Lebenslagen begangen werden. Beim Phänomen Wirtschaftskriminalität, ebenfalls überwiegend ein Kontrolldelikt, wird von den Sicherheitsbehörden hingegen weniger hingeschaut. Hier sind die Ermittlungen anspruchsvoller und komplexer und bedürfen spezieller Kompetenzen.

NBS: In welchem Umfang hat sich die Wirtschaftskriminalität und die Bedrohungslage für Unternehmen entwickelt?

Schulz: Die Bedrohungslage für Unternehmen ist hoch und steigt stetig. Die Kriminalstatistik hilft an dieser Stelle aber nicht weiter. Die aktuellen Zahlen für 2023 wurden bisher nicht veröffentlicht, aber während die registrierte Wirtschaftskriminalität in der Kriminalstatistik nur ca. 1 bis 2 Prozent ausmacht, war sie in den letzten Jahren teilweise für über 50 Prozent des in der PKS registrierten Gesamtschadens verantwortlich. Sowohl die Fallzahlen als auch die verzeichnete Schadenssumme sind aber lediglich Spitze des Eisbergs. Die Studien der großen Wirtschaftsprüfgesellschaften liefern uns ein besseres Bild über die tatsächliche Bedrohungslage. Unternehmen sind unabhängig von der Größe speziell durch Cyberkriminalität und Betrug bedroht, von Innen- wie Außentätern. Automatisierte Kontrollsysteme und technologische Entwicklungen bieten Unternehmen zwar immer neue Möglichkeiten für die Bewertung von Risikofaktoren, bestehende Konzeptionen erweisen sich in der Praxis aber oftmals als unzureichend. Dies liegt teilweise an Defiziten bei der Datenerhebung, -auswertung und -analyse, an dem Fehlen geeigneter technischer Unterstützung und verbesserungswürdigen Umsetzungskompetenzen bei den Bedarfsträgern. Hier sind die Unternehmen gefordert, entsprechend qualifizierte Sicherheitsmanagerinnen und -manager in ihren Reihen zu wissen. Längsschnittstudien sind vielfach nur auf bestimmte Items fixiert und bilden qualitative Veränderungen gerade bei Delikten der Wirtschaftskriminalität nur eingeschränkt ab, was entsprechende Forschung notwendig macht, wie sie beispielsweise am Institute of Intelligence and Security Management (I2SM) an der NBS durchgeführt wird.