Von Adenauer bis Scholz: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers hat schon viel zu Reden gegeben – auch in der gegenwärtigen Bundesregierung mit ihrer besonderen Drei-Parteien-Konstellation. Eine aktuelle Analyse betrachtet das Vorrecht des Kanzlers als universelles Gestaltungsmittel der Regierungsorganisation. Die Richtlinienkompetenz ist nicht nur bloßes Machtwort, sie verschafft dem Regierungschef eine Reihe informeller und situativer Möglichkeiten der Interessendurchsetzung.
Beinahe schien Bundeskanzler Adenauer ein wenig ungehalten. Im Jahr 1956 gab er dem Bundeswirtschaftsminister Erhard mit einem offiziellen Brief zu verstehen, dass dieser sich seiner Richtlinienkompetenz in Bezug auf eine geplante Rentenreform fügen möge. – Eine eher seltene (oder selten bekannt gewordene) Anwendung der Kanzlerkompetenz, die mit einem Schreiben von Bundeskanzler Scholz an die Minister Lemke, Lindner und Habeck 2022 eine gewisse Neuauflage erfuhr. Diesmal gleichwohl ohne Adenauer'sche Ermahnung, dafür zur Auflösung einer koalitionsinternen Streitigkeit. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ So will es Art. 65 Satz 1 des Grundgesetzes, die vielbeschworene Richtlinienkompetenz. Daneben regeln Satz 2 dieses Artikels, dass innerhalb dieser Richtlinien jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung leitet und Satz 3, dass die Bundesregierung über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet. Aber wie werden diese Vorgaben in der Regierungspraxis mit Leben gefüllt?
In einem gerade erschienenen Aufsatz für die „Nordrhein-Westfälischen Verwaltungsblätter –Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung“ diskutieren Marcel Schütz, Richard Beckmann und Johann Paetzold juristische, organisatorische und soziologische Aspekte der Richtlinienkompetenz innerhalb des Regierungsapparats. Ihr Ansatz besteht darin, das Machtmittel des Kanzlers zwischen rechtlicher Normierung und politischer Realität zu bestimmen.
Auch die meisten deutschen Bundesländer gewähren den Ministerpräsidenten eine Richtlinienkompetenz. Durchweg verfügen deutsche Regierungschefs allerdings nicht über das Recht, mit Verordnungen und Dekreten durchzuregieren. Es wird keine Handhabe für autoritäres Handeln geboten; vielmehr fungiert die Richtlinienkompetenz als Lenkungsinstrument innerhalb einer Regierung. Es steht im Ermessen eines Bundeskanzlers, ob und wie er die Richtlinienkompetenz besonders betont.
Einer der Mitautoren, der Jurist Richard Beckmann von der Universität Bielefeld, erklärt das so: „Auch wenn die Grundgesetzbestimmung recht scharf formuliert ist, schließt das nicht aus, dass damit verschiedene Grade der Machtgestaltung, also auch weichere Akzente etwa durch Bitten, Hinweisen oder Andeuten einhergehen. Nicht von ungefähr spricht man in der Rechtswissenschaft daher weniger von der Bestimmung der Richtlinien der Politik, sondern vielmehr von besagter Richtlinienkompetenz. Ein Bundeskanzler muss zum Regieren nicht ständig Richtlinien bestimmen, es reicht vielfach bereits die Kompetenz hierzu. Man spricht hier auch von Vorwirkung oder einer Autoritätsreserve.“
Die Autoren plädieren dafür, die Ausübung der Richtlinienkompetenz stets im Kontext jeweiliger Bedingungen der Regierungskonstellation zu betrachten. Dazu zählen die Art der Koalition und der Regierungsstil ebenso wie informelle Praktiken und Interaktionen zwischen den Regierungsmitgliedern und ihren Ressorts. Auch die öffentliche Meinung über den Erfolg oder Misserfolg von Regierung und Kanzler beeinflusst, wie weitreichend der Regierungschef seine Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Koautor Johann Paetzold, Stipendiat im Masterprogramm Public Policy an der Hertie School in Berlin, beschreibt das so: „Wenn die Kanzlermacht öffentlichkeitswirksam zur Anwendung kommt, spielt die mediale Optik eine wichtige Rolle. Gilt der Amtsinhaber als ,angeschossen‘, kann das Wedeln mit seinem Druckmittel eher als Schwäche aufgefasst werden; genießt er hingegen breitere Zustimmung und erfährt gute Presse, deutet man das schnell als Ausdruck von Stärke und Entschlossenheit.“
Die Analyse zeigt, dass Anwendung und Wirkung der Richtlinienkompetenz am situativen Rahmen des Regierens und am politischen Spitzenpersonal hängen. Nur oberflächlich betrachtet, so argumentiert der Artikel, stelle die Richtlinienkompetenz einen unbedingt exklusiven und äußerlichen Akt dar. Tatsächlich finde sie eine kontinuierliche und daher wenig sichtbare Ausübung. Diese realisiere sich insbesondere bei der Anbahnung und Beeinflussung von Entscheidungen zwischen Kanzleramt und Ministerien und im öffentlichen Auftreten des Regierungschefs. Überhaupt stelle die Richtlinienkompetenz eine in die breitere Kanzlermacht integrierte Komponente dar, erinnern Schütz, Beckmann und Paetzold.
Eine Reihe wichtiger Exklusivrechte des Kanzlers, wie Ministerernennung und -entlassung, Kabinettsumbildungen und die oberste Befehlsgewalt im Verteidigungsfall, markierten das Konzept der Kanzlerregierung in der Bundesrepublik. Dass ausgerechnet die Richtlinienkompetenz öffentlich als brisant gilt, liege daran, dass sie so momenthaft und direktiv daherkomme, während die weiteren Machtmittel des Kanzleramts oft selbstverständlich oder nebensächlich erschienen. Man müsse diese Instrumente in ihrer Gesamtheit begreifen.
Die Autoren heben hervor, dass die Richtlinienkompetenz sogar zur Moderation und Schlichtung gebraucht werden könne. Durch ihre geschickte Anwendung trete der Kanzler als Koalitionsmanager in Erscheinung, der divergierende Interessen wieder einfange und die Regierung auch bei schweren Krisen und Anfechtungen zusammenhalte. Die Kanzlermacht gelte aber nicht uneingeschränkt. Neben rechtlichen, durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen greifen Beschränkungen in politisch-situativer Hinsicht. Etwa dann, wenn die Partei des Regierungschefs seine Politik nicht mehr stützt oder Koalitionäre den Abzug ihrer Minister erwägen. Außerdem ist anzunehmen, dass die Richtlinienkompetenz gegenüber den Ministern der Kanzlerpartei mit stärkeren Erwartungen und Abhängigkeiten verbunden ist. Ihr Verhältnis zum Kanzler ist enger und mit höherer Loyalität ausgeprägt. Immerhin werden aus den Reihen des Kabinetts zuweilen auch Thronfolger bestimmt.
Marcel Schütz, Professor für Organisation an der Northern Business School in Hamburg, bilanziert: „Weil das Grundgesetz kurz und knapp bleibt, eröffnet es viel Raum für Interpretation, was eine Kanzlerin oder ein Kanzler aus dieser Stellung eigentlich macht. Wie prägt ein Bundeskanzler das Amt, wie prägt das Amt den Bundeskanzler? Da die Regelungen der Kanzlermacht nicht vollständig auszubuchstabieren sind, können sich abhängig von Personen, Situationen und Intentionen sehr diverse Führungsmomente einstellen. Wir verstehen unseren Beitrag als eine Ergänzung, die gegenüber rein formalen, allzu starren Lesarten die vielfältige Realität der politischen Exekutive hervorhebt.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Marcel Schütz: schuetz@nbs.de
Originalpublikation:
Schütz, M./Beckmann, R./Paetzold, J. (2024): Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers: Politische Gestaltung im Wechselspiel zwischen juristischem Zugriff und organisatorischen Praktiken des Regierens. In: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl.). Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung 38(2), S. 49–60. https://shop.boorberg.de/rbv-content/Inhaltsverzeichnis/NWVBl_2024-02_IVZ.pdf