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Der Soziologe Marcel Schütz ist Professor für Organisation an der NBS. Bild: Hendrik Mödden
Befindet sich der Krieg an einem Wendepunkt? Ukrainische Flagge im Abendlicht. Bild: Max Kukurudziak

Gerät die Unterstützung der Ukraine ins Wanken? Naht ein Wendepunkt? Ein Interview mit dem Soziologen Marcel Schütz, Professor für Organisation an der NBS, über eine problematische Kriegskonstellation.

Herr Schütz, Sie haben kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) einen Beitrag zum Beginn des dritten Kriegsjahres in der Ukraine geschrieben. Dort liest man von einer „soziologischen Struktursuche“. Was meinen Sie damit?

Es ist der Versuch, die schwierige Rolle der westlichen Unterstützer nachzuvollziehen. Und die Frage zu stellen, wie die involvierten Akteure in diesem Konflikt auftreten, wie sie nicht nur Ziele verfolgen, sondern sich einander beeinflussen. Krieg ist in beträchtlichem Maße eine Frage der Wahrnehmungen, der Perzeptionen. Jede Seite kalkuliert mit bestimmten Folgen ihres Tuns und teilt sich über An- und Absichten mit. Man verrät aber auch Dinge, lässt sich versehentlich in die Karten schauen, taktiert und provoziert, oder man wird heimlich – wie jüngst der Fall – abgehört, was zu entsprechenden kommunikativen Reaktionen, zu Verunsicherungen führt. Das Ganze geschieht heutzutage nicht fern der Öffentlichkeit, sondern über Massenmedien und soziale Netze vor einem riesigen Publikum, das durch Resonanz und Stimmung seinerseits Einfluss hat – vielleicht wie bei keinem Krieg zuvor.

Eine Ihrer Folgerungen ist, dass der Krieg in seiner Durchführung eine ungewöhnliche Form aufweise bzw. dass sich durch die westliche Unterstützung einige Schwierigkeiten einstellen.

Russlands Aggression gegen die Ukraine ist das, was man einen „großen Krieg“ nennt. Das Bestreben einer umfangreichen Landnahme unter Einsatz massiver militärischer Gewalt, was ebenso starke Abwehrmaßnahmen in Gang setzt. Große Staaten mobilisieren ihre Streitkräfte. In Europa kennen wir das in solchen Ausmaßen zuletzt aus dem Zweiten Weltkrieg. Das zentrale organisatorische Problem besteht auf der Seite der Ukraine darin, dass sie voll und ganz auf die Unterstützung der westlichen Staatenallianz angewiesen ist, die ihrerseits aber den Krieg gar nicht direkt führt, nicht führen darf, ihre Mittel laufend abstimmen muss und in ihrer Zielsetzung – auch absichtlich – unklar bleibt. Außerdem verfügt diese Allianz kaum über Ergebniskontrolle und sie weckt große Erwartungen, dass sie ihren Einsatz unbegrenzt verlängern und die Feuerkraft notfalls deutlich verstärken kann.

Kurzes Einhaken: Dennoch wird unaufhörlich betont, dass nichts unternommen werden dürfe, das den Westen direkt am Krieg beteilige. Die Reaktionen von Bundeskanzler Scholz und anderer europäischer Regierungen auf Präsident Macrons Überlegung etwaiger Bodentruppen sind aussagekräftig.

Das stimmt. Je länger dieser Krieg dauert, desto intensiver müssen die Unterstützungen auf hohem Niveau fortgesetzt werden, was die Frage aufwirft, was man eigentlich macht, wenn Russland von seinen Zielen nicht ablässt und in die Vorderhand kommt. Das ist jetzt der Fall. Und entsprechend gibt es Druck und Disput im westlichen Staatenbund, dessen Entscheidungen – anders als bei der Machtkonzentration in Moskau – immer wieder für eine gemeinsame Linie abgestimmt werden. Zudem müssen sich die Regierungen mit der Ukraine selbst verständigen, sie vertrösten und Bitten abschlagen. Das alles ist eine komplizierte Geschichte.

Ohne diese Konstellation gäbe es die Ukraine als souveränen Staat wohl gar nicht mehr. Es kursiert eine Abbildung im Internet: die Ukraine als Staumauer einer riesigen russischen Wassermenge. Bricht der Damm, wird alles dahinter, Europa, geflutet.

Die Abbildung bringt eine Erwartung zum Ausdruck, die sich im Laufe der letzten beiden Jahre gefestigt hat. Die westliche Seite präsentiert sich als „halbe Welt“, die sich der russischen Aggression in den Weg stellt. Mit der Zeit kamen Spekulationen auf, dass Russland weiter nach Westen vordringen könnte, möglicherweise das Baltikum oder Polen als Ziele in den Blick nehme. Diese Annahme wird durchaus zu einer kommunikativen Strategie, Kräfte gegen den Aggressor zu mobilisieren. Und das kann bedeuten, dass man die Dinge derart groß werden lässt oder groß macht, bis man schon den nächsten Weltkrieg vor Augen hat. Anders gesagt: Es wird mit der Zeit immer schwieriger, sich noch vorstellen zu können, dass Putin nicht irgendwann den Westen angreift.

Es heißt, in der Ukraine werde der ganze Westen verteidigt. Das kann doch so falsch nicht sein, wenn man sich anschaut, wie hart die Ukrainer um ihre Freiheit kämpfen?

Auf rein ethischer oder emotionaler Ebene lässt sich dem freigiebig zustimmen. Wenn diese Leute viele unserer Werte teilen, dann berührt es auch uns. Auf der anderen Seite wird die Ukraine damit zum Prellbock gegen Russland. Es wachsen die Erwartungen, was sich in diesem Konflikt für uns entscheidet. Speziell dann, sollte die Ukraine den Krieg nicht in einer Weise gewinnen, die man als Sieg bezeichnen kann. In diesen erweiterten Bedrohungsszenarien steckt eine Menge kommunikative Abschreckung. Es wird versucht, die Unterstützung im westlichen Bündnis zu stabilisieren. Zugespitzt: Wenn wir jetzt nicht gegenhalten, sind wir die nächsten, in welcher Weise auch immer, die Putin angreifen wird. So die interpretierbare Botschaft.

Lassen Sie uns ein heißes Eisen anfassen: Die Frage, warum die westliche Unterstützung momentan so viel Unentschlossenheit vermittelt. Was denken Sie, ist das Ziel der westlichen Hilfe?

Es ist für diese Allianz nicht einfach, ihre Ziele klar auszusprechen. Das hat mit dem Gegner zu tun und mit der Frage, was realistisch zu erreichen ist. Es war undenkbar, nach dem Angriff im Februar 2022 die Ukraine schutzlos Russland zu überlassen. Also wählte man, so die meines Erachtens zutreffende Deutung, eine Kalkulation, die weder den Diktatfrieden des Aggressors noch eine Eskalation in den Westen, in die NATO, zulassen sollte. Die Hoffnung ist, zu einer andersartigen Kommunikation zu gelangen, zu einem Einlenken und zum vorläufigen Stopp der Aggression. Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sprach vor einigen Wochen vom Ziel eines neuen Minsk-Abkommens – angelehnt an jene Vereinbarung von 2015, die allerdings kurz darauf gebrochen wurde.

Sie sprechen in Ihrem Artikel vom Montag von der „allmählichen Verwahrscheinlichung von Verhandlungen“.

Und für diese „Verwahrscheinlichung“ – das Wort deutet einen zeitlichen Prozess an – ist es nötig, dass die Kosten des Krieges zunehmend untragbar werden; besonders für den Aggressor, der dann nicht mehr in der Lage sein wird und nicht willens ist, den Kampf auszuweiten. Eine Ermüdung sozusagen. Aber, und das macht es kompliziert, es müsste auch auf Seiten der Ukraine eine Bereitschaft eintreten, bestenfalls bei beiden Parteien etwa zu gleicher Zeit. Also nicht derart, dass für eine Seite, im Zweifel die Ukraine, nur noch aufgedrückte Bedingungen zu unterschreiben sind. Ich denke, dass wir uns nicht ganz klarmachen, wie allein der Faktor Zeit dazu führt, dass sich Wahrnehmungen verändern und sich Bereitschaften entwickeln, die man früher für undenkbar hielt.

Das klingt erschreckend plausibel. Erschreckend, weil es bedeutet, dass man gar nicht an den eindeutigen Sieg der Ukraine glaubt, sondern den Aggressor an einen Punkt bringen will, dass er seine Kriegskalkulation ändern muss, um nicht seinerseits zu kollabieren und alles zu verlieren. Am Ende werden aber beide Seiten zum Kompromiss gedrängt.

Das ist das Erschreckende oder Ungeheuerliche. Vom transatlantischen Standpunkt aus wird die westliche Unterstützung auf einen Sieg der Ukraine zielen. Aber das bleibt relativ abstrakt. Die Frage ist, ob man einen echten Sieg für realistisch hält. Und ob man dieses Szenario überhaupt anstreben will, im Wissen um die unberechenbaren Folgen einer Niederlage auf russischer Seite, im Wissen um einen möglichen Versuch Russlands, diese Kränkung durch den Einsatz weitaus massiverer Waffen abzuwenden, was zu eine Kettenreaktion führen könnte. Es ist nicht entscheidend, ob man selbst das alles glaubt, entscheidend ist, welche Folgeabschätzungen Regierungen, die mittelbar beteiligt sind und Verantwortung tragen, in ihrer Risikorechnung für relevant erachten.

Sie wollen die Kontrolle nicht abgeben bzw. wollen eine Vorstellung von Kontrolle behalten?

Ja, insofern von Kontrolle hier noch die Rede sein kann. Vielleicht ist es eine Kontrollillusion. Wir wissen es nicht genau, die Regierungen wissen es vermutlich auch nicht so genau. Wenn man schon nicht selbst die Waffen einsetzen und nicht die Befehle geben kann, wird versucht, quasi über dem Kommando der Ukraine, ihrer Regierung und ihren Streitkräften, noch eine Ebene zu schaffen, auf der fortlaufend abgewogen und bewertet wird, wie weit zu gehen man bereit ist. Ungewöhnliches Management in einer ungewöhnlichen Kriegskonstellation.

Es ließe sich einwenden: Das motiviert den Aggressor, seine Maßnahmen fortzusetzen, außerdem führt es dazu, dass die Unterstützung irgendwann einbricht, weil man nicht genug Schritt hält.

Aber wiederum schließt man – so das mögliche Selbstverständnis des westlichen Unterstützungsregimes – damit aus, selbst zur Eskalation beizutragen. Die westlichen Regierungen scheinen jene Konflikteingrenzung betreiben zu wollen, zu der der Aggressor nicht bereit ist. Er hat den Krieg begonnen, für ihn scheint es alternativlos zu sein, ihn fortzusetzen. Es ist klar, dass so eine Form der Selbstbeschränkung und Konfliktkontrolle ziemlich nach Appeasement durch die Hintertüre aussieht. Und es ist nicht leicht, einen solchen Pfad wieder zu verlassen. Allein schon, weil es jetzt zu Nachschubproblemen in der Waffenproduktion kommt, die Blockade in den USA anhält und man im Bündnis auch nicht ganz einig ist, welche militärischen Maßnahmen für die Zukunft noch denkbar wären – und wie man darüber spricht oder lieber schweigt.

Da wäre die lange Diskussion über die Taurus-Marschflugkörper. Ob es sein könnte, dass man zu zögerlich war, und es jetzt an Munition und Material fehlt, wodurch Russland Oberwasser kriegt?

Darauf verweisen Experten. Es ist aber auch nicht leicht, zu erkennen oder einzugestehen, ob und inwieweit man sich in der eigenen Kalkulation vielleicht verrechnet hat. Hierzu dürfte die Unerfahrenheit mit der Situation beitragen. Es gibt keine Vorlage, keinen vorangegangenen Testfall, keine festgeschriebenen Kriterien, wie weit man gehen kann. Natürlich besteht weiterhin eine Grenze zur direkten Kriegsbeteiligung. Wir wissen nicht, über welche Kenntnisse die Regierungen verfügen, was sie dazu veranlasst, zögerliche Entscheidungen zu treffen, die sie vordergründig schwach aussehen lassen. Und man weiß nicht, was heute wäre, wäre die westliche Seite mit aller Macht in die Lieferungen gegangen. Mir persönlich fällt die Vorstellung schwer, dass der russische Präsident, einmal absolut in die Enge getrieben, seinen Krieg schlichtweg abbricht. Vieles, über das wir sprechen, ist rein spekulativ. Regieren heißt in so einer Lage: Spekulationen managen.

Es wurde zuletzt von „strategischer Ambiguität“ gesprochen. Damit ist gemeint, dass man Putin mehr als bislang im Unklaren halten müsse, wie weit zu gehen man bereit ist.

Das Problem ist dabei, dass Putin diese Diskussion über strategische Ambiguität mitkriegt. Wir müssten ihn für ziemlich schlicht halten, würden wir meinen, man könne ihn groß im Unklaren lassen. Ich denke, da macht man sich was vor. Putin ist mit der deutschen Sprache und Gesellschaft sehr gut vertraut. Und Deutschland gilt bekanntermaßen als vorbelastet, was das Verhältnis zu ihm anbelangt. Hierzulande laufen große Auseinandersetzungen über einen richtigen Kurs in der Unterstützung der Ukraine. Putin wird sich das alles ansehen und sich davon berichten lassen; all die Unsicherheiten und die Unruhe, wie sie für eine demokratische Gesellschaft bei solch einer Konfrontation typisch sind.

Umgekehrt bleibt die Welt des Kremls für den Westen verschlossen, sagen Sie.

Der russische Präsident kann uns besser beobachten als wir ihn. Das ist ein Nachteil, den man gegenüber einem autoritären Regime, das sein Volk in passiver Unterstützung hält und kritische Kommunikation im eigenen Land abfängt, nicht gut ausgleichen kann. Er kriegt alles mit, worüber man hier streitet. Er sieht, wie die Opposition den Kanzler in die Mangel nimmt, wie bestimmte politische Lager allzu naiv von Verhandlungsbereitschaft reden, wie die Staats- und Regierungschefs zuweilen uneins sind. Das wird ihn motivieren, seinen Kurs fortzusetzen.

Sie schrieben in der NZZ, wenn der Krieg nicht zu gewinnen sein sollte, dann werde man sein Ende „er-warten“. Was heißt das?

Mit „Er-warten“ werden zwei Bedeutungen aufgerufen. Das Erahnen jedenfalls irgendeiner Veränderung und dann, damit verbunden, die Dimension der Zeit. Der Blutzoll ist heute mit schätzungsweise einer halben Million verwundeter und getöteter Soldaten auf beiden Seiten hoch, die ukrainische Armee klagt über Erschöpfung und es fehlt ihr an genügend Munition. Umgekehrt schickt Russland große Mengen von Soldaten aus seinem riesigen Territorium an die Front. Zu einem heute nicht absehbaren Punkt werden Dinge geschehen, die eine Änderung des Krieges in seiner bisherigen Form zur Folge haben. Wendepunkte, ein Kollaps, ein Durchbruch, ein exogener Faktor.

Ein solcher exogener Faktor wäre wohl die US-Präsidentschaftswahl im Herbst?

Und damit der mögliche Auftritt eines neuen (alten) Präsidenten, der mit der Idee spielt, einen aus seiner Sicht historischen Deal zu machen; vielleicht ohne Rücksicht darauf, wie die westliche Allianz dasteht. Ein vorläufiges Ende des Krieges wird keinen Frieden verheißen. Verständigungen und das Einfrieren der militärischen Aktivitäten sind Prozesse, die Jahre oder Jahrzehnte beanspruchen. Mit dem Ende direkter militärischer Konfrontation wird erst recht die hohe Erwartungslast an Zugeständnissen, Rechenschaft und Strafbegehren ihre ganze Wirkung entfalten. Fragile Abkommen und eine Revitalisierung der russischen Aggression sind ebenso möglich wie Widerstand im ukrainischen Volk gegen eine mögliche Teilung und teilweise Besetzung des Landes. Das Schwierige an dieser Entwicklung sind die Anschlüsse und die Art der Anschlusskommunikation.

Was meinen Sie mit Anschlusskommunikation?

Soziologen denken stark in sozialen Anschlüssen. Das heißt: Wie setzt sich etwas fort, wie bilden sich Strukturen aus, die jeweilige Anschlüsse wahrscheinlich machen. Kurz gesagt, alles muss irgendwie weitergehen. Auf militärische Lösungen folgen politische. Aber zu welchem Preis, das ist die Frage. Russland wird nicht verschwinden, Putin wird aus heutiger Sicht noch eine lange Zeit Präsident bleiben können. Unabhängig davon, was im Einzelnen geschieht: Die riskanten Anschlüsse sind aus keiner Kalkulation herauszurechnen. Ich meine, dass diese Überlegung der unvermeidlich riskanten Anschlüsse vieles von dem leitet, was im westlichen Bündnis, speziell hinsichtlich der deutschen Regierung, momentan kritisch und kontrovers diskutiert wird.

Das Gespräch führte Dr. Rüdiger von Dehn.

Prof. Dr. Marcel Schütz hat die Stiftungs- und Forschungsprofessur für Organisation und Management an der Northern Business School in Hamburg inne. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die soziologische Organisations- und Gesellschaftsforschung. In diesem Rahmen befasst er sich u. a. mit Störungen und Devianz im organisatorischen Kontext. Der erschienene Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung kannhierabgerufen werden.

Der Beitrag kann hier heruntergeladen werden: "Gefangen in der Gefahr" aus der Neuen Zürcher Zeitung (PDF)

Kontakt:

E-Mail: schuetz[at]nbs.de

Webseite von Prof. Dr. Marcel Schütz