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Prof. Dr. rer. pol. Marcel Schütz leitet die Stiftungsprofessur für Organisation an der NBS Hamburg. Er forscht zu Führungs- und Entscheidungsstrukturen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Bild: NBS/Privat.
Präsident Woodrow Wilson mit Gattin Edith. Die First Lady sollte zum Ende der Amtszeit Wilsons eine in der Geschichte der USA einmalige Rolle spielen. Bild: Stock Montage/Getty Images.

Mit einer Abfolge spektakulärer Ereignisse ist der US-Wahlkampf in vollem Gange. Wie werden Präsidentschaft und Macht gesellschaftlich beobachtet? Ein Gespräch mit dem Soziologen und Organisationsprofessor Marcel Schütz über die Autorität des Amtes, politische Stimmungen und Edith Wilsons heimliche Herrschaft.

Professor Schütz, als Elizabeth II. mit 96 starb, da sagten Sie: "Ein bisschen dachte man, sie würde uns alle überleben". Dann ist ein 81-jähriger Präsident gar nicht so alt? 

(Lacht). Die Queen war bis ins hohe Alter eine Ausnahmegestalt. In Robustheit und Strahlkraft die letzte große Monarchin Europas. Erst spät erschien sie fragil, soll geistig aber hellwach geblieben sein. Mit so einer Konstitution bewahrt man sich Autorität. Letztlich haben wir keine Wahl. Der eine verlässt die Welt hochbetagt bei völliger Klarheit, die andere ereilt der mentale Abbau. Hinzukommt das Körperliche. Unser Umgang mit dem Altern und seinen Begleiterscheinungen ist ambivalent. Keiner wird jünger. Nur ist es nicht immer leicht zu sagen, wann jemand ein Amt aufgeben muss, wenn die Kräfte schwinden.

Gerade endete ein Seminar von Ihnen über den Trumpismus und die Präsidentschaftswahl. Was interessiert Sie an diesem Thema?

Als Organisationsforscher beschäftigen mich auch politische Führungs- und Machtstrukturen; seit längerem speziell der USA. Politik ist zu einem großen Teil das Organisieren von Programmen und Mehrheiten. An der Entwicklung in den USA ist einiges interessant: die Langlebigkeit Trumps nach dem Sturm aufs Kapitol und all den Gerichtsverfahren; die MAGA-Bewegung ("Make America Great Again"); die scharfe Konfrontation beider Parteien und damit autoritativer und liberal-demokratischer Prägungen. Demokraten und Republikaner bilden im hochinklusiven Zwei-Parteien-System große und diverse Bevölkerungsteile ab. Traditionell gibt es Überschneidungen. Die Demokraten haben neben linken und liberalen Strömungen auch Übergänge ins konservative Milieu. Umgekehrt können Republikaner sehr konservativ und rechtskonservativ verortet sein oder eher gemäßigte Positionen vertreten. Markant ist, dass sich mit der Ära Trumps die Republikanische Partei verstärkt bewegungsförmig (MAGA) profilierte und insgesamt einen gesellschaftspolitisch restriktiveren Charakter mit einer charismatischen Komponente, verkörpert durch Trump, angenommen hat. Ein Vorläufer war die Tea-Party-Bewegung, die sich während der Obama-Präsidentschaft formte. 

Vor einigen Wochen galt Präsident Biden vielen noch als stärkster Herausforderer Trumps.

Ich habe das auch so gesehen. Bezüglich eines "Rematches" von Biden und Trump stand es seit längerem etwa fifty-fifty. Wir sehen, wie die Entwicklung einer politischen Stimmung die bisherige Realität schlagartig ändern kann, wie ein Pfad abbricht. Das ist passiert. Wenn die Berichte nur noch negativ ausfallen, die Leute das Gefühl kriegen, dass jemand auf dem absteigenden Ast sitzt, dann schwindet die Unterstützung. Biden ist in einen Teufelskreis geraten. Es stimmt, dass es bei den Demokraten – aufgrund des Alters – länger bereits Kritik an einer Wiederkandidatur gab. Mediziner sagen, dass ein altersbedingter Abbau sich in kurzer Zeit beschleunigen kann. Die veränderte Lage bot den passenden Rahmen, alle Vorbehalte endgültig zu eskalieren. Dennoch erscheint es möglich, dass Biden eine Wiederwahl gepackt hätte. Ob es noch angemessen gewesen wäre, sieht man sich seine Verfassung an, das steht auf einem anderen Blatt.

Gab es für den Präsidenten noch einen Weg, sein Amt zu behalten?

Überwiegende Meinung ist: nein. Kritisch war zum einen der erodierende Rückhalt in der eigenen Partei. Zum anderen gab es die Aneinanderreihung unvorteilhafter Beobachtungen. Dem allgemeinen Eindruck nach haben die Aussetzer nach dem Duell noch zugenommen, ob aus Verunsicherung oder Übervorsicht. Es ist natürlich so, dass wir immer genauer hingeschaut und mehr gefunden haben. Ich denke, dass er lange der Auffassung war, den Kampf zu überstehen. Erst spät kam die Entscheidung zum Verzicht. Es war eine stetige Einengung der Möglichkeiten. Wäre die Entwicklung dieses Monats eine andere gewesen und hätte es noch kein vorangehendes TV-Duell gegeben, könnte der Kandidat einfach weiter Biden heißen. Es erscheint unvermeidlich, wie es nun gekommen ist, aber es ist das Resultat einer Vorgeschichte mit bestimmten Bedingungen. 

Denken Sie, dass das Attentat auf Trump diese Entwicklung mitbeeinflusst hat?

Meine Annahme war anfangs, dass es Biden erstmal aus der – hier ein schwieriges Wort – "Schusslinie" nehmen würde. Allerdings hatte ich nicht eingerechnet, wie energisch die Infragestellung Bidens aus Partei und Unterstützerumfeld fortgesetzt würde. Das Attentat, die Republikanische Convention und die permanente Trump-Show, all das hat die Republikaner in eine bevorzugte Lage gebracht. Zulasten eines angeschlagenen Präsidenten. Es ist ein kumulativer Effekt mit indirekten bzw. Nebenfolgen. Nachdem Biden im Laufe der letzten Woche selbst in höchsten Kreisen von Kongress und Partei für eine Kandidatur nicht mehr infrage kam, man ihm das auch so gesagt hat, war ein final kritischer Punkt erreicht. Ironie der Geschichte: Biden kam im Corona-Jahr ins Weiße Haus – und erneut unter Corona-Isolation unterschrieb er seinen Amtsverzicht. 

Es wird über Intrigen und das Hintertreiben der Präsidentschaft gesprochen.

Manchen erscheint es so, als würde alles auf einem raffinierten Plan beruhen: Erst Biden ins Rennen schicken, damit sich die Gegenseite auf ihn einschießt; ihn dann kurzerhand absägen und mit einer Welle der Begeisterung die frische, dynamische Ersatzfrau aus dem Hut zaubern. Das klingt zu glatt, um wahr zu sein. Aber möglicherweise hat man das frühe TV-Duell, vor der Kandidatur, als Stresstest für Biden gesehen. Würde er es ordentlich bestehen, wäre er gesetzt. Würde es missraten, könnten Dinge in Gang kommen, die auf einen Wechsel hinauslaufen. Das Duell, das die Eignung des Präsidenten demonstrieren sollte, führte zu dessen Ende. Was davon Kalkül war, was unvorhersehbar, ist nicht klar. Dass aus dem eigenen Umfeld allmählich kräftiger nachgeholfen wurde, das ist anzunehmen. 

Ich möchte den Punkt Alter und Erkrankung noch einmal historisch vertiefen. Auch mit früheren Amtsinhabern gab es da Erfahrungen. 

Ja, oft wird jetzt Ronald Reagan erwähnt, der zum Ende seiner Amtszeit Anzeichen von Alzheimer offenbarte. Sein Vizepräsident, der ihm im Präsidentenamt später nachfolgende George Bush senior, soll das wohl kompensiert haben, heißt es. Aber wir können viel weiter zurückgehen, einige Präsidenten hatten Alters- oder chronische Krankheitsprobleme. Prägnant sind die Präsidentschaften von Woodrow Wilson (1913–1921) und Franklin D. Roosevelt (1933–1945). Wilson, wohl schon als junger Professor erkrankt, wurde 67 Jahre und Roosevelt, durch Kinderlähmung körperbehindert, starb im Amt mit 63. Bei beiden wurden die tatsächlichen Ausmaße ihrer Gebrechen vor der Öffentlichkeit sorgsam verborgen oder sozusagen abgemildert, was für US-Präsidenten damals leichter war als heute. Edith Wilson, die First Lady, hatte in den letzten Jahren von Wilsons Regierung de facto eine Art heimliche Präsidentschaft inne. Ihr Mann war nach Sturz und Schlaganfall (dem schon andere vorangingen) ab Herbst 1919 praktisch amtsunfähig. Der Leibarzt, aus Verbundenheit zur Familie, verschwieg das aber und der Vizepräsident machte keine Anstalten, das Zepter in die Hand nehmen zu wollen. Das Regierungskabinett griff kaum ein. Bei einer späteren Besserung kamen Minister und Vertreter aus dem Kongress ans Bett. Jemand sagte: "Herr Präsident, wir beten für Sie!" Und Präsident Wilson soll erwidert haben: "In welche Richtung?"

Die Chance für eine bis dahin unbekannte Rolle der First Lady.

Richtig. Edith Wilson dürfte bis zum Ende der Präsidentschaft, also gut eineinhalb Jahre, eigenmächtig wesentliche Amtsgeschäfte ihres Mannes übernommen bzw. geführt haben. Das hat ihr posthum den Titel der "ersten US-Präsidentin" eingebracht. Aus heutiger Sicht gab es ein ungeheures Machtvakuum. Man hatte aber nicht im Ansatz unsere Medienpräsenz. Die Präsidenten düsten noch nicht im Flugzeug um die Welt, sondern fuhren Wochen mit dem Zug über den Kontinent. Der Arbeitsalltag war gleichmäßiger, vieles ereignete sich langsamer. Das Weiße Haus vor hundert Jahren erschiene uns eher wie ein beschauliches Palais. Pressekonferenzen und Auftritte waren lange Zeit vergleichsweise ruhige, seltenere und oft lokale Ereignisse. 

Dennoch dürfte es auch damals nicht leicht gewesen sein, alle zu täuschen?

Das stimmt, bei Wilson waren die Ausmaße gravierend. Der Präsident wurde phasenweise in den abgedunkelten Raum gesetzt und von seiner Frau über Stunden so präpariert, dass er halbseitig einigermaßen ansehnlich wirkte. Funktionsträger und Parteileute, die man zu ihm ließ, durften nur bestimmte Fragen stellen und hatten anschließend gegenüber Journalisten zu versichern, der Präsident erfreue sich guter Verfassung. Edith Wilson soll die Antworten mit ihrem Mann regelrecht einstudiert haben. Das Kabinett war über Monate vom Präsidenten abgetrennt. Wilson trat nicht mehr vor die Öffentlichkeit, kam, nach einer gewissen Genesung, aber auf die – letztlich erfolglose – Idee, sich glatt noch um eine dritte Amtszeit zu bemühen. Roosevelt, der als einziger Präsident sogar eine vierte Amtszeit begonnen hatte, war da fast am Ende seines Lebens.

Auf der Präsidentschaft des direkten Nachfolgers von Wilson sollte auch kein Segen liegen.

So kann man das sagen. Präsident Warren G. Harding starb 1923 an Herzinfarkt oder Schlaganfall auf einer Reise durch die Staaten. Sein Vizepräsident wurde auf der Farm des Vaters von eben diesem vereidigt. Es war eine ganz andere Zeit, aus der die plastisch-prägnante Formel herrührt, der Vizepräsident befinde sich "only a heartbeat away from the presidency". Immerhin acht von 46 Präsidenten schieden auf diese Weise aus dem Amt und brachten ihre Stellvertreter damit ins selbige.

Wechseln wir wieder in die Gegenwart. Bidens Verzicht revitalisiert die Demokratische Partei. Dreht das den Wahlkampf?

Es gibt eine Flut täglich neuer Umfragezahlen. Alle blicken begierig auf erste Trends. Für einen nachhaltig aussagekräftigen Trend muss noch was Zeit vergehen. Klar ist: Durch Bidens Verzicht werden die Karten neu gemischt. Harris profitiert von einem enormen Beobachtungswechsel, dem Kontrast zum alten Präsidenten. Seine Schwäche ist ihre Stärke. Man sieht, wie die Demokraten in Aufbruchstimmung sind, die Leute dort regelrecht aufblühen. Dieser elektrisierende Erneuerungsschub geht an den wichtigen Wechselwählern nicht vorbei. Es wird erstmal viel in die Vizepräsidentin hineinprojiziert und sie hat ihr Momentum. Auf einen derart steilen Start kann Ernüchterung folgen, sollte der Aufwind deutlicher nachlassen.  

Was sagt der Organisationsforscher zum Demokratischen Parteitag im August, der die Vizepräsidentin vermutlich nur noch bestätigen wird?

Es ist organisatorisch die unkomplizierteste Lösung. Harris wird von so vielen Parteigranden "endorsed", also unterstützt, dass der Nominierungsparteitag keine Überraschung mehr verspricht. Es sind Fakten geschaffen worden. Die Spendengelder gehen am leichtesten in ihre Kampagne; hunderte Millionen Dollar sind binnen Tagen eingegangen. Vielleicht wird sie noch vor dem Parteitag nominiert. Die Zeit für eine Bewerberrunde ist zu kurz, dem politischen Gegner soll kein weiteres Machtvakuum präsentiert werden. Die Kandidatin verfügt über alle Ressourcen, ist Teil der Regierungsspitze und findet intern Zustimmung. So ein Ablauf schmeckt nicht allen Demokraten. Manche haben das Gefühl, nur noch abnicken zu dürfen, was in Washington entschieden wurde. Die Partei kann mit einer außergewöhnlichen Situation argumentieren – das diszipliniert. 

Weniger diszipliniert ging der Nominierungsparteitag der Demokraten im Jahr 1968 vonstatten. Präsident Lyndon B. Johnson hatte auf eine Wiederwahl verzichtet, es folgte ein wilder Wettstreit um den politischen Kurs und den Nachfolgekandidaten. 

Der Vergleich ist gerade in aller Munde. Was weniger bekannt ist: Präsident Johnson wollte auf dem Parteitag in letzter Minute als Demokratischer Kandidat wieder ins Rennen gehen und hätte Chancen gehabt, obwohl zuvor Verzicht erklärt, doch noch Kandidat zu werden. Aber der Secret Service konnte so kurzfristig nicht für seine Sicherheit garantieren, also zerfiel der Plan. Im Vorwahlkampf war einer der Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, und zwar kein geringerer als Robert F. Kennedy, Bruder von John F. Kennedy, einem Attentat tödlich zum Opfer gefallen. Hier drängen sich selbstredend aktuelle Parallelen auf. Hubert H. Humphrey wurde übrigens Kandidat und verlor gegen den Republikaner Richard Nixon. 

Sie haben gesagt, "Trump und Biden sind wie Feuer und Wasser", bei einem nochmaligen Rennen wisse man nicht, was sich am Ende durchsetzt. Wie ist das jetzt?

"Feuer und Wasser" passt jetzt noch besser. Harris ist viel jünger als Biden, sie kommt von der Westküste und gilt als links-liberal geprägt. Trump mit all seinen Wesenszügen stellt einen kaum größer vorstellbaren Gegensatz dar. Diese Konfrontation wird auf jeder Seite starke negative Kräfte gegen die andere aktivieren. Entscheidend ist, welche Mobilisierungskampagne Oberhand behält. Aus heutiger Sicht ist das Rennen offen. Und man kann davon ausgehen, dass unvorhersehbare Ereignisse sich folgenreich auswirken können: Diskreditierungen, Enthüllungen oder exogene Faktoren durch überraschende nationale und weltpolitische Vorfälle. Gefürchtet ist vor allem die "October Surprise", eine über mehrere Präsidentschaftswahlen hinweg beobachtete, unerwartete Entwicklung in der Spätphase des Rennens, die über Sieg oder Niederlage mitentscheiden kann.   

Für den Fall, dass Trump die Wahl gewinnt, wäre auch das historisch: Nur einmal kehrte ein abgewählter US-Präsident später wieder ins Amt zurück.

Und es gelang nur einem Demokraten. Trump wäre der erste Republikaner. Grover Cleveland schaffte es gegen den Republikaner Benjamin Harrison. Cleveland verlor nach seiner ersten Amtszeit 1888 das Weiße Haus an Harrison, der es 1892 wiederum an seinen Amtsvorgänger verlor. Wäre Biden Kandidat geworden, hätte es sehr der damaligen Konstellation geähnelt. Jetzt ist keiner der Kandidaten amtierender Präsident. Das Rennen wurde in den damaligen Swing States entschieden. Übrigens: Als die Clevelands nach der Abwahl das Weiße Haus verlassen müssen, soll die scheidende First Lady Frances dem neuen Präsidenten gesagt haben: "I want to find everything just as it is now when we come back again. We are coming back just four years from today." Wie gesagt, so geschehen. 

Für uns in Deutschland hat es etwas viel Pathos, wenn die USA ihren Präsidenten wählen und feiern. Abgesehen vom internationalen Gewicht, wie kommt es, dass die Präsidentschaft zugleich so fasziniert und polarisiert?

Das Präsidentenamt ist historisch mit viel Symbolkraft aufgeladen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es bei der Gründung der Vereinigten Staaten als Monarchie-Ersatz geschaffen wurde. Es markiert die Loslösung vom britischen Weltreich, die Herausbildung einer eigenen Administration und die Garantie umfassender Freiheitsrechte. Der Gottesbezug ist für ein demokratische Staatsoberhaupt auch sehr stark artikuliert. In der Anfangsphase wurde sogar mit dem Gedanken gespielt, gleich einen eigenen König zu installieren. Der Soziologe Rudolf Stichweh erinnerte daran neulich in einem Vortrag. So erklärt sich, wie sehr der Präsident mit repräsentativer Ausstrahlung assoziiert ist. Er regiert und moderiert im Zusammenspiel der vielzitierten "Checks and Balances". Das Amt schafft, dem Prinzip nach, einen Ausgleich bei der ewigen Spannung zwischen den Bundesstaaten, sehr unterschiedlichen, großen Regionen, und der Bundesverwaltung, dem Machtzentrum Washington. 

Die oft beanspruchte nationale Einigkeit in den Reden der Präsidenten, ein Appell an "all Americans" unterstreicht es. Im politischen Gebilde der USA ist der Präsident somit ein kohäsives und integratives Element. Aber er selbst kann eben durch seine Machtfülle, durch die für alle sichtbare, zentrale Stellung, auch spaltend wirken. Sei es in der Frage der Beteiligung an Kriegen, im Zuge sozialer Konflikte im Land oder durch restriktive Politiken. Mit dem Präsidenten ist auch ungemein viel Zeremoniell verbunden. Denken wir nur an die protokollarischen Formen seiner öffentlichen Äußerung: die Presidential Speeches, die jährliche State of the Union Address im Kongress oder bei wichtigen Ereignissen die Oval Office Address direkt aus dem Amtszimmer. Überhaupt, das Oval Office, fast museal anmutend. Dieser eine Schreibtisch, die drei Fenster, der mit jedem Präsidenten wechselnde Teppich, die beiden Sofas vor dem Kamin. Dieses Arrangement mit den Insignien präsidentieller Macht hat, vor allem im Laufe des späteren 20. Jahrhunderts, das (pop-)kulturelle Bild vom US-Präsidenten geprägt – und findet sich zeitlos verarbeitet in Film, TV und Boulevard, Kunst, Musik und Literatur.

Wer auch kommt und geht – Trump ist immer (noch) da. Wie kommt das? Sie haben sich letztes Jahr in einem Porträt für die NZZ mit ihm beschäftigt. 

Trump hat nie wirklich aufgehört, Präsident zu sein. Er hat praktisch durchgehend Wahlkampf gemacht, seine Rallies – unter Anhängern beliebte, perfekt orchestrierte Trump-Shows – absolviert und Spenden eingesammelt. Die Erzählung von der gestohlenen Wahl bot für all das die Basis. Es ging ihm nach der Abwahl früh um eine Rückkehr. Mit seiner Dauerpräsenz hat er die Kernwählerschaft, aber auch den Kreis potenzieller Wechsler, die von einer Amtszeit Bidens vielleicht genug hätten, bei der Stange gehalten. Weil Trump sein Leben lang Entertainer und Showman ist, hat er es natürlich im Blut, sich wieder als geradezu alternativlos aufzudrängen. Kaum jemand wäre auf so eine Idee gekommen, aber nach den Gesetzen der Aufmerksamkeit hat Trump alles richtig gemacht. 

Dagegen hatten seine Mitbewerber keine Chance. 

Zum einen das, Ron DeSantis und Nikki Haley vor allem. Solange es das Original gibt, wollen die Leute keine Kopie. Und den völligen Gegensatz offenkundig auch nicht. Zum anderen: Mit der Serie an Gerichtsverfahren hat sich für Trump gleich eine neue Anti-Establishment-Kulisse ergeben. Motto: 2020 haben sie uns die Wahl gestohlen, jetzt versuchen sie es schon vor der Wahl. Trumps goldene Formel lautet da: Sie verfolgen mich, aber sie meinen euch! – die MAGA-Basis. Das zieht. Seine Wiederauflage der Erzählung einer gestohlenen Wahl wird, quasi vorsorglich, jetzt mit dem Kandidatenwechsel von Biden zu Harris beginnen. Er hat indirekt ja schon gesagt: I want my money back! Ganz der New Yorker Baulöwe. Die Republikaner haben in eine Kampagne gegen Biden investiert. 2020 war Trumps Problem, dass Biden zur Wahl steht, 2024 ist sein Problem, dass Biden nicht mehr zur Wahl steht. Mit solchen Wendungen kommt Trump nicht gut klar. Vor allem nicht, wenn sie seinen kürzlichen Höhenflug dämpfen. Attentat, Parteitag und die Kür von James D. Vance zum Vizekandidat hatten ihm volle Aufmerksamkeit und sogar ein paar zusätzliche Sympathien beschert.  

Zum Schluss unseres Gespräches nochmal ein Blick auf diese rasante Ereignisfolge der letzten Wochen. Wie prägt das eigentlich die Wahrnehmung?

Es ist ein bisschen wie in einer Netflix-Serie; vielleicht die nächste Präsidentenserie. Bitte, hier ist das Drehbuch. Nur erschiene das den Leuten zu übertrieben, zu wild, zu gewollt. Entwicklungen, die normalerweise viel länger dauern, sind wie auf Wochen und Tage zusammengedrückt – ein ganzer Monat für die Geschichtsbücher. Das ist eine starke Verdichtung von Ereignissen, die gleich von den nächsten abgelöst werden. Wir sehen das beim Attentat vor noch nicht mal zwei Wochen. Dabei sind diese Bilder von einem blutverschmiert die Faust ballenden Donald Trump schon jetzt historisch. Die Ereignisse überlagern sich, können jedoch bisweilen zu einem späteren Zeitpunkt nochmal hochkommen und Einfluss üben. Gar nicht untypisch für Präsidentschaftsrennen. Surprise, surprise!

Prof. Dr. rer. pol. Marcel Schütz leitet die Stiftungsprofessur für Organisation an der NBS Hamburg. Er forscht zu Führungs- und Entscheidungsstrukturen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik. E-Mail: schuetz[at]nbs.de

Der Austausch wurde geführt mit Dr. Rüdiger von Dehn, Leiter des Bereichs "Internationales" der Northern Business School und Historiker mit dem fachlichen Fokus auf der US-Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.