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Marcel Schütz. Foto: Kevin Knoche
Das Mann Gulch Fire im US-Bundestaat Montana (1949) wurde Gegenstand einer der berühmtesten Unfallanalysen, durchgeführt von Karl E. Weick. Foto: US Government/gemeinfrei

Ob das Feuer in Notre-Dame oder das Busunglück auf Madeira: Erst um Ostern haben schwere Unfälle für Aufsehen gesorgt. Marcel Schütz, der an der NBS Northern Business School – University of Applied Sciences als Research Fellow tätig ist, untersucht katastrophale Zwischenfälle in Organisationen. In diesem Zusammenhang befindet sich eine eigene Studie zum ICE-Unglück von Eschede bereits in der Erstellung.

Unfälle, Störungen und Fehler gibt es alltäglich. Und doch rechnet natürlich niemand so wirklich mit ihnen. Während kleine Handicaps und selbst persönliche Schicksalsschläge nur selten und kurz in die Öffentlichkeit geraten, sind es vor allem größere Unfälle in Unternehmen oder öffentlichen Schauplätzen, die – gerade in Zeiten digitaler Kommunikation – schnell intensive und oft internationale Beachtung erfahren.

Brände, Chemieunfälle, Bus- und Zugunglücke, Schiffshavarien oder Flugzeugabstürze – so verschieden all diese Ereignisse sein mögen, so sehr verbindet sie ihre Rahmung durch Organisationen. Und auch das Personal der Organisationen gerät schnell in den Fokus, werden erst einmal Verantwortliche oder Schuldige gesucht. Doch wie kommt es zu gravierenden Störfällen, welche "Vorgeschichte" geht ihnen voraus und welche Rolle spielen dabei eigentlich individuelle und organisatorische Entscheidungsprozesse? 

Solchen Fragen geht Marcel Schütz, Organisationsforscher und Research Fellow an der NBS, nach. In einem aktuellen Essay für das Onlinemagazin "Sozialtheoristen" wirft er einen Blick auf die nähere Struktur organisatorischer Unfälle. Dabei hält er fest, dass Unfälle zu Erwartungsenttäuschungen führen: "Mit Unfällen büßen Organisationen auf einen Schlag ein gerüttelt Maß Legitimität ein. Ausgerechnet sie, die 'Organisierten', welche vorgeben, alles im Griff zu haben, scheinen kläglich zu versagen", schreibt der Forscher in seinem Beitrag.

Der US-Soziologe Charles Perrow entwickelte sogar die These, dass technische Katastrophen heute wohl kaum völlig zu vermeiden seien. "Normalisierte Unfälle, das ist das pointierte Stichwort", so erklärt Schütz gegenüber der NBS: "Hoher Takt und enge Kopplung werden als wichtige Argumente für diese normalisierten Unfälle angeführt. Durchaus überzeugend, wie ich finde. Heute muss vieles schnell, wertig und günstig ablaufen; aber natürlich auch noch möglichst sehr sicher und für Massennutzung tauglich. Zielkonflikte sind da nicht ausgeschlossen."

Die Unfallforschung habe über Jahrzehnte viel Wissen hervorgebracht. Schütz verweist beispielsweise auf den renommierten US-Psychologen und Managementforscher Karl E. Weick. Der habe an einem großen Waldbrand im Bundesstaat Montana (1949), dem sogenannten "Mann Gulch Disaster", die Folgen einer schwachen Organisation rekonstruiert. "Es ging hier darum, wie das Festhalten an unbrauchbar gewordenen Routinen ins Verderben führte. Wichtige Anpassungen wurden in der Eile nicht vollzogen. Beinahe die gesamte Feuerwehrtruppe kam in den Flammen um, obwohl ihr Vorgehen bis dahin als professionell galt und Sicherheit bot", so Schütz. Man kann also selbst beim Bewältigen eines Unfalls (hier Löschversuch) gleich einen weiteren Unfall (Selbstgefährdung der Löscheinheit) verursachen.

Aber eine zweite Studie von Weick habe ein noch viel größeres Unglück analysiert: Die Flugkatastrophe im Flughafen Teneriffa (1977) mit 583 Toten. Schütz meint, es sei fast unglaublich, aber der größte Flugunfall der Geschichte habe nicht etwa in der Luft, sondern banaler Weise noch am Boden stattgefunden. Und der Grund darin lag wiederum in ungünstigen organisatorischen Routinen: "Es gab hier im Cockpit wohl einen fatalen Rückfall in ein erlerntes Bewertungsmuster, das zum Verkennen der Lage und in Sekundenschnelle zum Desaster führte. Das Flugzeug raste mit voller Geschwindigkeit durch den Nebel in ein anderes Flugzeug. Aber der Kapitän war in dem Moment sicher, alles völlig korrekt zu tun. Er war der Star-Kapitän der Flotte."

Als Research Fellow befasst sich Schütz derzeit auch selbst mit einer empirischen Analyse eines Unfalls. Im niedersächsischen Ort Eschede, in der Lüneburger Heide, verunglückte vor 21 Jahren der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" nicht mehr weit weg von seinem Endziel Hamburg. 101 Menschen starben bei dem Unglück. Schütz betrachtet den Wechsel der Radtechnologie am Intercity-Express der Deutschen Bahn in den früheren neunziger Jahren, der – wie man heute weiß – schließlich zum Zugunglück von Eschede führte. Die in den Neunzigern angewandte Prüftechnologie zur Kontrolle der ICE-Räder wurde später als ungeeignet bewertet.

Der vollständige aktuelle Beitrag von Marcel Schütz ist auf der Seite "Sozialtheoristen"  nachzulesen.