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Polizeimannschaft im Dezember 1918 während der Spanischen Grippe in Seattle. Die Todeszahl wird weltweit auf 25 bis 50 Millionen geschätzt. Das Ausmaß gilt damit als mindestens mit der Pest ab 1346 vergleichbar. Bild: Wikimedia/gemeinfrei
NBS-Forscher Marcel Schütz. Bild: Kevin Knoche

Viele humane Seuchen gelten heute als ausgerottet oder immerhin eingedämmt. Geblieben sind wiederkehrende Viren und alte Befürchtungen um fatale Auswüchse. Gegenwärtig steht vor allem die Diskussion um die Grippe und das Corona-Virus im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dazu ist ein Kommentar von Marcel Schütz, Research Fellow an der NBS, in der Frankfurter Rundschau erschienen (alternativ PDF). 
Vor ein paar Tagen stand der Forscher dem NBS-Marketing für ein kurzes Interview zur Verfügung.

NBS: Wieso erfahren Grippewellen jährlich eine so hohe Beachtung?

Schütz: In gewisser Weise kommt es, ähnlich wie bei der Krankheit selbst, schnell und heftig zur wiederkehrenden Diskussion. Neben der Grippewelle ist also gelegentlich von einer "Grippediskussionswelle" zu sprechen. In den Zeitungen sind täglich ganze Seiten für die neuesten Meldungen, Fallberichte und Einschätzungen reserviert. Der Rundfunk setzt Sondersendungen ins Programm. Dadurch verstärkt sich die Beachtung der Grippe fast wie von allein.

Was bedeutet das für die Informationsqualität?

Mehr Information bedeutet mehr Anlass für Einschätzung, Bewertung und Kontroverse. Ob eine Grippedebatte übertriebene Züge annimmt, lässt sich nicht objektiv feststellen. Von Panik kann meist keine Rede sein. Medizinische und Laienurteile, offizielle Information und beiläufiges Hörensagen sind aber nicht ganz leicht zu trennen. Auch unter den Experten gibt es diverse Meinungen. Das erschwert natürlich die Entscheidungsbildung. Zum Beispiel beim Impfen. Gehört man schon zur Risikogruppe?

Welche Rolle spielen hier Assoziationen bzw. landläufige Vorstellungen?

Eine Reihe Sozialforscher und Psychologen sind der Auffassung, dass insbesondere Grippewellen tiefer sitzende Ängste von Menschen bedienen. Grippen sind uns ja irgendwie vertraut und trotzdem ein Stück weit suspekt. Das war bereits in der Geschichte so: Die Krankheit kam und ging, man konnte sich keinen Reim drauf machen. Die Mikrobiologie war unbekannt. Moderne Menschen verstehen davon sehr viel mehr.

Worin besteht dieser Wissensvorsprung?

Vielleicht ist es mehr noch ein anderer Blick als ein Vorsprung. Man weiß heute, wie Seuchen über ganze Länder und Kontinente hinwegziehen können, welche Erreger die Ursache sind, wie sie gedeihen. Es gibt viele Kategorisierungen: Epidemie, Pandemie, Endemie usw. Wir lesen aber heute noch vom Ausmaß der mittelalterlichen Pest oder der Spanischen Grippe. Diese "natürlichen" Katastrophen bleiben der Maßstab für Künftiges. Es gibt keinen großen Virus ohne Erinnerung an schlimme Seuchen der Vergangenheit.

Inwiefern ist die Grippe auch eine Angelegenheit der "sozialen Interpretation"?

Sie wird es durch ihre Einbindung in soziale Strukturen. Selbst wenn die Grippe oder eine andere Seuche wie vom Himmel fällt: Dann kommen stets die Hilfsarchitekturen zur Einschätzung, Prognose und Gefahrenabwehr. Darüber müssen Entscheidungen herbeigeführt werden, die nicht immer auf der Hand liegen. Ab wann ist eine Lage überdurchschnittlich gefährlich? Soll man Mitarbeiter nach China-Reisen beurlauben? Diese Fragen sind nicht rein medizinisch zu klären; sie werden auch politisch und wirtschaftlich bewertet.